eAkte und Textverständnis – über das Lesen am Bildschirm.

Abzulehnen wäre die digitale Revolution des juristischen Arbeitsplatzes, wenn es gerade die Spezifika der anspruchsvollen juristischen Fallbearbeitung sind, die Hindernisse für eine zielführende Arbeit am Bildschirm darstellen; wenn das Textverständnis, die inhaltliche Durchdringung von Schriftsätzen am Bildschirm leiden würden. Tatsächlich – und die Erkenntnis ist fast erschütternd – ist dies noch kaum erforscht. 

Die These, dass Lesen am Bildschirm anstrengender, oberflächlicher und weniger „tief“ ist, deckt sich auch mit dem Erfahrungshorizont. Sie bedarf kaum zusätzlicher Begründung. Objektivierbar ist dieser Befund aber (noch) kaum.

Der subjektive Eindruck ist aber natürlich ein Befund für sich, der ernst zu nehmen ist. Belastbare Studien gibt es nicht für solch exotische Arbeitsplätze wie die eines Richters. Vergleichbar sind allenfalls Studien zu „Massenmärkten“ wie dem der digitalen Bücher („eBooks“) oder zum Lesen im Schulkontext. Lesen auf Papier wird danach tendenziell als angenehmer empfunden und die Lesegeschwindigkeit (siehe auch oben Arbeitseffizienz) ist tendenziell höher. Hinsichtlich des Textverständnisses selbst sind die Ergebnisse dagegen nicht so eindeutig: Neben zahlreichen Studien, die erbracht haben, dass das Textverständnis am Bildschirm gleich oder schlechter ist als auf Papier, gibt es auch eine Studie, nach der das Textverständnis am Bildschirm unter bestimmten Voraussetzungen sogar besser sein kann als auf Papier. Teilweise ergeben sich die relativen Vorteile von Papier auch nur in besonderen Konstellationen, wie bspw. dann, wenn es um Informationen geht, die an verschiedenen Stellen eines Dokuments verteilt sind. Allen Studien ist aber gemein, dass sie sich eben mit der besonderen Arbeitssituation des Juristen, der wortgenauen Arbeit an langen, teilweise unübersichtlichen Texten, gerade nicht befassen. Hinzu kommt, dass das bloße Lesen und Verstehen von Texten nicht die gesamte juristische Tätigkeit einfängt, sondern, dass (weitgehend in einen übergeordneten komplexen Arbeitsprozess eingebettet) es auch um das das Schreiben eines juristischen Ergebnisses, nämlich eines Schriftsatzes, eines Gutachtens, eines Beschlusses oder Urteils – mit Bezug zu diesen Texten, z.T. unter Nutzung von Zitaten aus diesen – geht.

Die Frage, ob das Textverständnis beim Lesen auf Papier – auf dem jeweiligen Stand der damit verglichenen digitalen Anzeigetechnik ! – nun unterm Strich besser oder schlechter ist, möglicherweise über sozio-demographische Faktoren oder sogar individuell variiert oder von der Tagesform abhängig ist, muss noch weiter untersucht werden. Sicher ist, dass eine weitere Forschung auf diesem Gebiet – auch speziell der juristischen Fallbearbeitung – nötig ist, schon um sich der konstruktiven Frage anzunähern, nämlich der, wie die geeignete Ausstattung aussieht, um Arbeitseffizienz, Verständnistiefe etc. zu optimieren.

Abschied von einem ausreichenden Textverständnis werden wir daher sicher nicht nehmen müssen. Wir werden aber darauf dringen und darüber wachen müssen, dass unsere Arbeitsplatzausstattung – Hard- und Software – auch tatsächlich für unsere Arbeit geeignet sind. Das setzt voraus: Nicht den Kopf in den Sand zu stecken und hoffen, dass die eAkte (jedenfalls bis zur Pensionierung) nicht kommt, sondern aktiv an ihrer Gestaltung mitwirken!

Ausführlich und mit weiteren Nachweisen: Bläsi/Müller, „Ausdrucken war gestern – oder?“, eJustice-Magazin 2/2016, S. 15.

Bild: Darstellung einer Akte im Aktenviewer von EUREKA-Fach (Justizfachverfahren für die Fachgerichte; www.eureka-fach.de)

Autor: Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts