LSG Berlin-Brandenburg: Beweislastumkehr im Scanprozess

Behörden sehen sich auch nach Einführung elektronischer Behördenakten weiter einer großen Zahl von Papierpost gegenüber, weil der Bürger noch sehr unvollständig Zugang zum elektronischen Rechtsverkehr hat. Diese Post muss digitalisiert werden, um Eingang in die elektronische Akte zu finden. Für Vorgänge in der – aus Sicht des Bürgers – „Blackbox“ zwischen Briefkasten und Veraktung des Dokuments trägt die Behörde die Darlegungs- und letztlich auch die Beweislast. Das Bedeutung vor allem für die Fristwahrung eines Posteingangs in der Regel eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast. So auch im Fall des LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5.11.2020 – L 9 KR 204/19.

Aus dem Sachverhalt

Wie in so vielen krankengeldrechtlichen Streitigkeiten ist Ausgangspunkt des Beschlusses des LSG Berlin-Brandenburg der (vermeintlich) verspätete Eingang einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Krankenkasse. Der Versicherte hatte die Bescheinigung auf dem Postweg (wohl) rechtzeitig versandt – ebenfalls wie so oft konnte er einen Zeugen dafür anbieten, den Brief rechtzeitig in den Briefkasten der beklagten Krankenkasse gesteckt zu haben.

Nach dem Einlegen des Dokuments in den Briefkasten führte die Krankenkasse die Bescheinigung aber ihrem Scanprozess zu. Hierzu werden sämtliche Papiereingänge – sowohl solche, die über die Post versandt wurden, als auch solche, die direkt bei der Krankenkasse eingereicht werden – einem zentralen Dienstleistungszentrum zugeführt. Hierin wird der Eingang auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen überprüft, diese aussortiert und gescannt.

Der Scandienstleister bringt im Scanprozess einen qualifizierten Zeitstempel i.S. des § 2 Nr. 14 SigG an, der den Zeitpunkt der elektronischen Erfassung bescheinigt. Der Zeitpunkt des Eingangs im Herrschaftsbereich der Krankenkasse wird dagegen nicht dokumentiert.

Sozialrechtlicher Kontext

Immer wieder haben sich die Gerichte der Sozialgerichtbarkeit bis hin zum Bundessozialgericht mit dem Ruhen des Krankengeldanspruchs gem. § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zu beschäftigen gehabt. Die Meldung der Arbeitsunfähigkeit gegenüber der Krankenkasse ist eine formfreie Tatsachenmitteilung mit dem Inhalt, dass ein Arzt – nicht notwendigerweise ein Vertragsarzt – die medizinischen Voraussetzungen der Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat. Erreicht sie die Krankenkasse zu spät, ruht der Krankengeldanspruch des Versicherten.

Seit 1.1.2021 handelt es sich hierbei weitgehend um Rechtsgeschichte: Im Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung (Terminservice- und Versorgungsgesetz – TSVG) wird der Übermittlungsprozess für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgegriffen und digitalisiert. Seit dem 1. Januar 2021 ist gem. § 295 SGB V die papiergebundene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abgeschafft. Sie ist nun durch ein einheitliches und verbindliches elektronisches Verfahren zur Übermittlung dieser Bescheinigung ersetzt. Die elektronische Übermittlung wird dabei beim Vertragsarzt angesiedelt (siehe Müller, NZS 2020, 416 – kostenpflichtig bei beck-online).

Beweisrechtliche Problematik

Der Urkundsbeweis gem. §§ 415 ff. ZPO bindet die Gerichte in ihrer freien Beweiswürdigung gem. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO und stärkt damit die Beweissicherheit, letztlich also die Vorhersehbarkeit des Ausgangs des Gerichtsverfahrens. Für den Posteingang von Behörden ist anerkannt, dass der Posteingangsstempel eine öffentliche Urkunde gem. § 418 ZPO darstellt und daher den vollen Beweis für das Datum des Posteingangs erbringt.

In der elektronischen Welt fehlt eine solche Beurkundungsmöglichkeit. Insbesondere kann eine elektronische Datei – oder wie hier ein elektronischer Zeitstempel – keine Urkunde i.S.d. §§ 415 ff. ZPO sein. Für sie bleibt nur, gem. § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO ein Augenscheinsobjekt zu sein. Lediglich die §§ 371a, 371b ZPO enthalten Sonderregelungen, die den Beweiswert elektronischer Dokumente solchen von Urkunden annähern.

Gerade dies erreichte die beklagte Krankenkasse in ihrer Scanorganisation aber nicht. Noch schlimmer, der eigentlich maßgebliche Zeitpunkt blieb letztlich ohne Dokumentation. Damit krankt der Scanprozess der Krankenkasse nicht unter einem technischen, sondern unter einem organisatorischen Mangel.

Folgerichtig ist, dass dieser Mangel auf die Krankenkasse zurückfallen muss. Zwar wäre eigentlich der Versicherte beweisbelastet für den rechtzeitigen Eingang gewesen. Zu Recht nimmt aber das LSG eine Beweislastumkehr an:

Eine Umkehr der Beweislast ist für eine Tatsache gerechtfertigt, wenn für sie eine besondere Beweisnähe zu einem Beteiligten besteht. Das ist anzunehmen, wenn in dessen Sphäre oder in dessen Verantwortungssphäre wurzelnde Vorgänge nicht aufklärbar sind, insbesondere der andere Beteiligte diese nicht kennt und nicht kennen muss. […] Zwar liegt die Beweislast für den rechtzeitigen Zugang einer per Brief übersandten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Krankenkasse grundsätzlich bei den Versicherten. Spiegelbildlich dazu obliegt den Krankenkassen die Pflicht, ihren Herrschaftsbereich so organisieren, dass der Eingangszeitpunkt der o.g. fristgebundenen Bescheinigung bei ihr jederzeit beweissicher dokumentiert ist. Verzichtet die Krankenkasse auf die Verwendung eines Posteingangsstempels, der als öffentliche Urkunde den vollen Beweis der Tatsache des Eingangsdatums einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet (§ 418 ZPO), muss das stattdessen eingesetzte System eine vergleichbare Gewähr bieten. Ist das nicht der Fall, kann sich die Krankenkasse nicht auf einen behaupteten verspäteten Posteingang berufen, sondern muss diesen ihrerseits konkret nachweisen.

Zur Substantiierungspflicht des Klägers –> hier.

Näheres zum Beweis mit elektronischen Dokumenten: eJustice-Praxishandbuch, 5. Aufl., S. 258.

Autor: Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts