Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 233 ZPO ist bei Fehlern der Übermittlung elektronischer Dokumente der einzige Rettungsanker. § 130a Abs. 6 ZPO gilt nach allgemeiner Meinung nur für Fehler der Bearbeitbarkeit. Wichtig ist also, dass fehlendes Verschulden des Einreichers glaubhaft gemacht werden kann. Einem Rechtsanwalt in einem Verfahren des OLG Braunschweig (Beschluss vom 18.11.2020 – 11 U 315/20) gelang dies nicht. Nicht nur seine qualifizierte elektronische Signatur war ungültig, das Gericht fand auch seine Anweisungen an das Büropersonal lückenhaft.
Rechtlicher Hintergrund: Sorgfaltspflichten im elektronischen Rechtsverkehr
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nur zu gewähren, wenn dem Einreicher hinsichtlich der Versäumung der gesetzlichen Frist kein Verschulden vorwerfbar ist. Grundsätzlich bedeutet dies, dass er schuldlos gehandelt haben muss. Verschulden wird nach den allgemeinen Maßstäben entsprechend § 276 BGB bestimmt: Nicht schuldlos handelt, wer die Frist vorsätzlich oder fahrlässig versäumt hat. Fahrlässigkeit ist entsprechend § 276 Abs. 2 BGB das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Ein Irrtum über die Rechtslage ist grundsätzlich schuldhaft; dies gilt auch für die verhältnismäßig komplexe Rechtsmaterie des Elektronischen Rechtsverkehrs.
Die Schuldlosigkeit des Beteiligten ist aber nach der Rechtsprechung nicht die entscheidende Tatbestandsvoraussetzung, sondern Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt auch in Betracht, wenn der Beteiligte die Frist zwar schuldhaft versäumt hat, ihm aber sein Verschulden nicht vorgeworfen werden dann.
Gem. § 85 Abs. 2 ZPO muss die Partei das Verschulden ihres Bevollmächtigten gegen sich gelten lassen. Dies gilt allerdings nur für den Bevollmächtigten selbst, nicht für die bei Erfüllung seiner Aufgaben eingesetzten Hilfskräfte. Macht die Hilfskraft einen Fehler, liegt ein Verschulden des Bevollmächtigten selbst nur dann vor, wenn ihm ein Organisationsmangel vorwerfbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn er schuldhaft seine Pflichten bei der Auswahl oder Überwachung der Hilfskraft verletzt hat oder er den Kanzleibetrieb nicht ordnungsgemäß organisiert hat.
Zur ordnungsgemäßen Organisation des Kanzleibetriebs gehört es spätestens mit Inkrafttreten des § 31a BRAO auch, die Abläufe des Elektronischen Rechtsverkehrs hinreichend abzubilden. Zur sorgfaltsgemäßen Kanzleiorganisation gehört die elektronische Ausgangs- bzw. Zugangskontrolle. Die Rechtsprechung greift zur Ausfüllung des Sorgfaltsmaßstabs in durchaus kritikwürdiger Weise auf hergebrachte Grundsätze zurück. Sie fordert von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten einen Büroablauf, der so organisiert sein muss, dass jedenfalls für fristwahrende Schriftsätze, etwa durch Führung eines Postausgangsbuches oder durch einen Vermerk im Terminkalender, eine wirksame Ausgangskontrolle durchgeführt werden kann. Der Abgang fristwahrender Schriftsätze ist danach so zu kontrollieren und zu vermerken, dass er zweifelsfrei nachweisbar ist. Die Unterzeichnung eines Schreibens durch den Berufsträger und der Vermerk der Erledigung in dem von ihm persönlich geführten Terminkalender über diese Erledigung reicht der Rechtsprechung beispielsweise für den Nachweis des Abgangs des Schreibens nicht aus, weil es danach bis zur Postaufgabe verschiedene Möglichkeiten einer Fehlleitung oder eines Verlustes geben könne. Mit einer weitergehenden Automatisierung des Kanzleibetriebs tun sich die Gerichte noch schwer. Die Rechtsprechung zum anwaltlichen Sorgfaltsmaßstab sowohl des BGH als auch des BSG erschweren weiter die elektronische Führung anwaltlicher Fristenkalender, obschon sie dessen Digitalisierung entgegen teilweiser geäußerter Kritik nicht kategorisch ausschließen. Unter Fortführung der allgemeinen Meinung in der Rechtsprechung konkretisiert das BSG die anwaltlichen Sorgfaltspflichten bei der Führung von Fristenkalendern dahingehend, dass für jeden fristgebundenen Einzelvorgang eine Gegenkontrolle der Fristeintragung erforderlich sei. Ausgangspunkt der Rechtsprechung des BSG ist, dass mit der Eingabe elektronischer Datensätze ein neues, spezifisches Fehlerrisiko einhergehe. Dieses Fehlerrisiko entstehe vor allem durch die Beschleunigung des Arbeitsprozesses gerade bei der Abarbeitung von Routinevorgängen (hier: Fristeintragungen). Das BSG mahnt an dieser Stelle ein organisatorisches Gegensteuern, im Grunde ein Entschleunigen dieses Vorgangs, durch ein Vieraugenprinzip – eine Gegenkontrolle – an. Grundlage der hieran geäußerten Kritik ist, dass das BSG (gemeint ist dies allerdings wohl beispielhaft) diese Kontrolle durch „Ausgabe über einen Drucker“ oder ein „Fehlerprotokoll“ durchgeführt wissen will. Gerade moderne Kanzleisoftware unter Einschluss des Elektronischen Rechtsverkehrs lässt aber eine noch engere Absicherung durch vordefinierte elektronische Laufwege und unter Vermeidung von ihrerseits fehleranfälligen Medienbrüchen zu. Sowohl rechtlich zulässig als auch bei zunehmendem Elektronischem Rechtsverkehr empfehlenswert ist deshalb die Digitalisierung der Kanzleiarbeitsplätze und der Aktenverwaltung in der Rechtsanwaltskanzlei unter Beibehaltung eines Vieraugenprinzips.
Sehr gefestigt ist dagegen die Rechtsprechung zur Postausgangskontrolle. Als erforderlich für den erfolgreichen Abschluss des auf elektronischem Wege erfolgenden Schriftverkehrs wird nach allgemeiner Meinung der Erhalt und die ordnungsgemäße Kontrolle der Eingangsbestätigung gem. § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO angesehen. Die Rechtsprechung basiert auf dem Ausgangspunkt, dass das Risiko einer technischen fehlerhaften Übermittlung grundsätzlich der Absender trägt. Er muss den Erfolg und die Vollständigkeit der Übermittlung deshalb überprüfen. Die Eingangsbestätigung gem. § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO wird vom EGVP-Intermediär des Gerichts zuverlässig und automatisiert übersandt. Sie erhält in der Kanzleiorganisation eine zentrale Rolle. Dies gilt auch für Kanzleien, die den Elektronischen Rechtsverkehr erstmalig in die Kanzleiorganisation implementieren. Praktisch erfolgt die Postausgangskontrolle im beA durch Export der gesendeten Nachricht. Der Export der Nachricht erzeugt eine ZIP-Datei, die u.a. den versandten Schriftsatz selbst und zudem die Eingangsbestätigung in der Datei „x_export.html“ enthält. Die ZIP-Datei ist elektronisch signiert. Hierdurch kann jederzeit der rechtzeitige Zugang eines bestimmten Schriftsatzes bei Gericht nachgewiesen werden (Siehe im Einzelnen Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 1. Aufl., § 67 SGG (Stand: 28.01.2021), Rn. 37 – kostenpflichtig).
Tragende Entscheidungsgründe des OLG Braunschweig
Das OLG Braunschweig geht nun davon aus, dass die Anweisungen des Berufsträgers an das Büropersonal sehr konkret zu seien haben; ferner müsse er/sie die Anweisungen im Rahmen des Wiedereinsetzungsantrags auch detailliert glaubhaft machen:
„Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten schließt die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aus, wenn der Prozessbevollmächtigte im Rahmen seiner Büroorganisation durch eine Anweisung an seine Angestellten dafür Vorsorge getroffen hatte, dass bei normalem Verlauf der Dinge die versäumte Berufungsbegründungsfrist – trotz seines Versehens – mit Sicherheit gewahrt worden wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 17.10.2011 – LwZB 2/11 -, juris Rn. 12). So kann bei fristgerechter Einreichung einer nicht unterzeichneten Rechtsmittelbegründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn der Prozessbevollmächtigte sein Büropersonal allgemein angewiesen hatte, sämtliche ausgehende Schriftsätze vor der Absendung auf das Vorhandensein der Unterschrift zu überprüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 13.03.2014 – IX ZB 47/13-, juris Rn. 5).
Ob die Kontrolle einer elektronischen Signatur, die ungleich anspruchsvoller als der Blick auf das Unterschriftsfeld eines Schriftsatzes ist, überhaupt angesichts der verschiedenen rechtlichen Möglichkeiten einer wirksamen Einreichung von elektronischen Dokumenten dem Büropersonal übertragen werden kann oder nicht, bedarf im vorliegenden Fall keiner abschließenden Entscheidung.
Denn es fehlt bereits jeglicher konkrete Vortrag zu der Erteilung einer Anweisung an das Büropersonal, die Signatur auf der beA-Website zu überprüfen, durch die Klägerseite.
Während der Kläger detailliert aufgeführt hat, wie sich die Mitarbeiterin des Klägervertreters über den ordnungsgemäßen Zugang und das Vorhandensein der Signatur anhand des verwendeten Programms R. vergewissern sollte, nämlich durch Ausdruck des Zustellnachweises von R., Abhaken der wesentlichen Punkte (Zugang beim Empfänger, Vorhandensein der Signatur, Vollständigkeit der Anhänge) und anschließende Abheftung der Dokumente in der Papierakte, fehlt es an einer solchen Darlegung für die für die ersten drei Monate seit Benutzung des Programms angewiesene Kontrolle im beA-Postfach. Insofern lässt sich dem Vortrag der Klägerseite und der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der Mitarbeiterin lediglich entnehmen, dass sich die Mitarbeiterin nach dem Versand der Nachrichten über die beA-Schnittstelle von R. zusätzlich auf der Website von beA mit der Mitarbeiter-Signaturkarte anmelden und den ordnungsgemäßen Versand (Hervorhebung durch den Senat) prüfen sollte. Wie diese Prüfung konkret erfolgen sollte, hat der Kläger nicht dargelegt und glaubhaft gemacht. So fehlt es an jeglichen Ausführungen dazu, woran die Mitarbeiterin die Ordnungsgemäßheit der Versendung überhaupt hätte erkennen können und sollen, insbesondere ob sie gehalten war, den Button „Signatur prüfen“ zu drücken und das Prüfprotokoll einzusehen.
Allein aus der Anweisung, den ordnungsgemäßen Versand zu überprüfen, wie sie von der Klägerseite glaubhaft gemacht worden ist, ergab sich jedenfalls nicht die Verpflichtung, eine Signaturprüfung vorzunehmen, auch wenn der Kläger hiervon auszugehen scheint. Wie der Kläger selbst ausführt, wäre selbst beim Einloggen in das Webportal beA kein Fehler ersichtlich gewesen. Erst durch das zusätzliche Anklicken des Buttons „Signatur prüfen“ neben der als ordnungsgemäß versendet ausgewiesenen Nachricht hätte der Fehler auffallen können. Demnach hätte die Mitarbeiterin, die nur den ordnungsgemäßen Versand prüfen sollte, beim Einloggen auf der Website einen solchen Versand feststellen können, obwohl die Signatur ungültig war. Die Anweisung war somit nicht geeignet, trotz des Versehens des Klägervertreters die wirksame Einreichung der Berufungsbegründungschrift sicherzustellen.“
Siehe weiterführend zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im elektronischen Rechtsverkehr –> hier.