Historische Entwicklung bis zum ERV-AusbauG (7. Aufl. 2022)

Der Gesetzgeber knüpft mit der neuen Definition der Bearbeitbarkeit seit 1.1.2022 u.a. an ein Urteil des LG Mannheim (vom 4. September 2020 – 1 S 29/20 m. Anm. Müller, RDi 2020, 59.) an, in dem das Gericht im Ergebnis eine .docx – Datei akzeptiert hatte, weil das eAkten-System des Gerichts damit ohne Weiteres umgehen konnte.

Das LG Mannheim stellt zwar fest, dass eine .docx-Datei offenkundig nicht den Anforderungen des § 130a Abs. 2 ZPO i.V.m. mit der ERVV entspricht. Es meint aber, das Gesetz formuliere keine explizite Sanktion bei Verstößen. Damit stellt sich das LG Mannheim gegen die bislang herrschende Meinung, die fast selbstverständlich davon ausgeht, dass der Wortlaut einen klaren Hinweis liefere, dass ein nicht der ERVV entsprechendes Dokument nicht wirksam eingereicht sei. Insoweit zitiert auch das LG Mannheim beispielhaft das ArbG Lübeck (ArbG Lübeck, Urteil vom 9.6.2020 – 3 Ca 2203/19). Letztlich wird diese Linie aber auch mehr oder minder unausgesprochen von sämtlichen Bundesgerichten verfolgt; zuletzt vom BAG (BAG, Urteil vom 30.7.2020 – 2 AZR 43/20; BAG, Urteil vom 15.8.2018 – 2 AZN 269/18), aber jedenfalls im Rahmen der sog. Containersignatur-Rechtsprechung auch von zahlreichen anderen Gerichten (BGH, Beschl. v. 15. Mai 2019 – XII ZB 573/18; BSG, Beschl. v. 9. Mai 2018 – B 12 KR 26/18 B; BVerwG, Beschl. v. 7. September 2018 – 2 WDB 3/18).

Das LG Mannheim legt insoweit durchaus zu Recht den Finger in die Wunde, dass die vollständige Prüfung sämtlicher – teilweise ziemlich kleinteiliger – Anforderungen der ERVV und der ERVB die Ressourcen richterlicher Arbeitskraft insbesondere in den hochbelasteten ersten Instanzen unverhältnismäßig bindet. Beispielhaft verdeutlicht den Umfang der dann notwendigen Prüfungsdichte eine sehr anschaulich begründete Entscheidung des LAG Frankfurt am Main (LAG Frankfurt am Main, Beschluss vom 7.9.2020 – 18 Sa 485/20) zur Einbettung von Schriftarten.

Verhältnismäßigkeitserwägungen nach dem Recht bis 31.12.2021
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG Urteil vom 22.10.2004 – 1 BvR 894/04) stritt bereits nach der Rechtslage bis 31.12.2021 mit dem auch vom LG Mannheim gefundenen Ergebnis vieles dafür, dass eine starre Rechtsfolge für die Formvoraussetzungen der ERVV und ERVB nicht formuliert werden kann, sondern es stets einer Verhältnismäßigkeitsabwägung bedarf.

Im Rahmen einer Abwägung könnte nach der hier vertretenen Auffassung – die bislang wohl nicht der herrschenden Meinung entsprach – im Ergebnis die Einreichung eines elektronischen Dokuments, das nicht der Form der ERVV/ERVB entspricht, aber auch zulässig sein, wenn das elektronische Dokument prozessrechtlich oder materiell-rechtlich nicht der Schriftform unterlag und faktisch für das Gericht lesbar war (bspw. eine Anlage zu einem Schriftsatz) bzw. das elektronische Dokument (bislang) zwingende Vorschriften der ERVV/ERVB verletzt, die aber bloße Ordnungsvorschriften darstellen, weil eine Weiterverarbeitung nur unwesentlich erschwert wird (bspw. fehlende Texterkennung ). Es ist im Übrigen im Hinblick auf den bisherigen Wortlaut ohnehin fraglich, ob die Verordnungsermächtigung des § 130a Abs. 2 Satz 2 ZPO a.F. die Bestimmung zwingender Formvorschriften auch dann deckte, wenn sie nur Komfortfunktionen bei der Weiterverarbeitung dienen (auch hier bspw. die Texterkennung) und die Bearbeitbarkeit des Dokuments selbst nicht betrafen. Entsprechend ist auch das OLG Koblenz zu der Auffassung gelangt, dass die ERVB 2019 teilnichtig waren.

Die vielbeachtete Entscheidung des LG Mannheim bezieht sich letztlich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts , die klarstellt, dass Formanforderungen im Prozessrecht kein Selbstzweck sind. Letztlich gibt es nach dem Urteil des LG Mannheim kein Schwarz/Weiß-Szenario mehr, sondern die Formatangaben in der ERVV sind nur noch die verlässlichen Mindestrahmenbedingungen.

Genau diesen Weg geht auch das ERV-AusbauG mit der Formulierungsänderung in § 130a Abs. 2 ZPO n.F. und der ERVV: Hält der Absender die Vorgaben der ERVV/ERVB ein, kann er darauf vertrauen, dass das Gericht mit der Datei umgehen kann und seine Einreichung zulässig ist. Die ERVV/ERVB setzen daher die „Standards“. Dieser deutlichen und begrüßenswerten Vereinfachung des Merkmals „Bearbeitbarkeit“ steht freilich gegenüber, dass die Formvoraussetzungen im Übrigen vom Empfänger abhängig sind und darüber auch Streit nicht nur mit dem Verfahrensgegner, sondern auch mit dem Gericht drohen kann. Schließlich bestehen auch gewisse Risiken für „großzügige“ Gerichte, dienen doch vor allem die Vorgaben der ERVB zuvörderst Belangen der IT-Sicherheit der Justiz. Auch in Zukunft tut der vorsichtige Absender deshalb gut daran, sich an die Vorgaben der ERVV und der ERVB zu halten.
(3). Rechtslage vor dem ERV-AusbauG bis zum 31.12.2021
Bis zum Inkrafttreten des ERV-AusbauG zum 1.1.2022 wurde von der Rechtsprechung überwiegend angenommen, dass eine Datei, die nicht der ERVV/ERVB entspricht (bspw. Schriftsatz im .doc-Dokument, mit einer Container-Signatur, gänzlich ohne qualifizierte elektronische Signatur, aber nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg oder in nicht texterkannter Form) die Schriftform nicht wahrt und daher die Klage, der Antrag oder ein Rechtsmittel unzulässig sind.
Unter systematischen Gesichtspunkten sprach gegen eine solche grammatikalische Auslegung allerdings § 130a Abs. 2 Satz 2 ZPO. Die dortige Verordnungsermächtigung für die ERVV bezog sich auch in der alten Fassung explizit auf die Bestimmung der rechtlichen Rahmenbedingung auch für die Bearbeitbarkeit, so dass gefolgert werden konnte, dass gerade die ERVV, hier insbesondere §§ 2 Abs. 1, 5 ERVV a.F., den unbestimmten Rechtsbegriff der Bearbeitbarkeit näher ausgestaltet. Für diese Auffassung sprach auch die Gesetzesbegründung, die explizit das falsche Dateiformat als Beispiel für die fehlende Bearbeitbarkeit sowohl in § 130a Abs. 2 ZPO als auch in § 130a Abs. 6 ZPO aufgriff.

Rechtsfolgen bei Verstößen gegen die ERV-Formvorschriften (Stand ab 1.1.2022)
Gem. § 130a Abs. 2 ZPO muss das elektronische Dokument für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein. Hieran knüpft insbesondere die Eingangsfiktion des § 130a Abs. 6 ZPO an. Der Begriff der „Bearbeitbarkeit“ selbst und die Rechtsfolgen bei deren Fehlen werden in § 130a Abs. 2 ZPO nicht genauer definiert.

Autor: Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts