Bundesweit arbeiten immer mehr Gerichte mit elektronischen Gerichtsakten, der elektronische Rechtsverkehr mit den Verfahrensbeteiligten ist selbstverständlich geworden. Indes finden sich immer noch nur wenige Sachverständige, die ihre Gutachten in elektronischer Form vor. Das OLG Hamm (v. 1.7.2024 – 22 U 15/24) leitet aber nun aus § 173 Abs. 2 Nr. 1 ZPO jedenfalls eine passive Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs für einige Sachverständige ab – die Folge ist, dass eine Verpflichtung besteht, einen sicheren Übermittlungsweg i.S.d. § 130a Abs. 4 ZPO bereit zu halten.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige sind nach Auffassung des OLG Hamm gemäß § 173 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verpflichtet, ein elektronisches Postfach zu eröffnen, das für die elektronische Zustellung von elektronischen Dokumenten durch das Gericht auf einem sicheren Übermittlungsweg im Sinne von § 130a Abs. 4 ZPO geeignet ist.
Gem. § 173 Abs. 2 Nr. 1 ZPO haben unter anderem sonstige in professioneller Eigenschaft am Prozess beteiligte Personen einen sicheren Übermittlungsweg für die elektronische Zustellung eines elektronischen Dokuments zu eröffnen, bei denen von einer erhöhten Zuverlässigkeit ausgegangen werden kann.
Bei öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen ist bei der gebotenen typisierenden Betrachtung von einer erhöhten Zuverlässigkeit auszugehen.
Wie sich aus § 36 Abs. 1 GewO ergibt, bestehen besonders hohe Anforderungen an die persönliche und fachliche Eignung von Personen, die als Sachverständige öffentlich bestellt werden dürfen. Mit der öffentlichen Bestellung wird dem Sachverständigen neben der besonderen fachlichen Qualifikation auch eine besondere persönliche Vertrauenswürdigkeit zu erkannt. Daher ist die Feststellung der persönlichen Eignung des Antragstellers durch die Bestellungsbehörde erforderlich. Sie hat zu prüfen, ob der Sachverständige für Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Objektivität und Einhaltung der Pflichten eines Sachverständigen Gewähr bietet (BeckOK GewO/Rickert/Wöhlermann, 61. Ed. 1.12.2023, GewO § 36 Rn. 33 m.w.N.). Mit der öffentlichen Bestellung wird einem Sachverständigen unter anderem die persönliche Integrität bestätigt (BVerwG, Urteil vom 26.01.2011 – 8 C 45/09, Rn. 20, juris).
§ 36 GewO wird durch die Sachverständigenordnungen der Bestellungskörperschaften (wie z.B. durch die Mustersachverständigenordnung des DIHK – MSVO -) ausgefüllt, in welchen strenge Voraussetzungen an die persönliche und fachliche Eignung, unter anderem auch an die Vertrauenswürdigkeit des Bewerbers gestellt werden (vgl. 3.2.3 MSVO).
Zudem gewährleistet die Aufsicht der Bestellungskörperschaften auf der Grundlage ihrer Sachverständigenordnungen, dass bei öffentlich bestellten Sachverständigen – wie bei anderen berufsständisch gebundenen Personen auch – fortwährend die notwendige Zuverlässigkeit für die Zustellung von gerichtlichen Dokumenten gesichert ist.
Auswirkungen auch auf andere Sachverständige?
Im Unterschied zu den öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen fällt dagegen bei „freien Sachverständigen“ die von der Bestellungskörperschaft zu attestierende persönliche „erhöhte“ Zuverlässigkeit, weg. Nur die öffentliche Bestellung ist geschützt und unterliegt der Kontrolle durch die Industrie- und Handels- bzw. der Handwerkskammern, weshalb eine Erstreckung auf diese nicht gleichermaßen naheliegt.
Weil dagegen auch die Approbation gem. § 3 I Nr. 2 BÄO auf die persönliche Zuverlässigkeit von Ärztinnen und Ärzten abstellt, könnten diese als medizinische Sachverständigen wiederum ebenfalls in den Anwendungsbereich des § 173 II Nr. 1 ZPO mit einbezogen werden.
(vgl. ausführlich hierzu Kontusch/Kontusch DS 2024, 263)
Andererseits ist § 173 ZPO als Norm des Zustellungsrechts letztlich sanktionslos ausgestaltet. Dem Verstoß gegen eine durchaus begründbare passive Nutzungspflicht steht deshalb ohnehin keine unmittelbare Rechtsfolge gegenüber.
Systematischer Zusammenhang zum Beweisrecht
Die Qualität eines Sachverständigenbeweises hängt in wesentlichen Teilen von der Qualität der Anknüpfungstatsachen und ihrer vollständigen Würdigung durch den Gutachter aber. Ergeben sich die Anknüpfungstatsachen nicht aus der eigenen Beobachtung des Sachverständigen (bspw. bei der Untersuchung von Objekten oder Menschen, bei Besichtigungen und Ortsterminen), sind die Anknüpfungstatsachen in der Gerichtsakte enthalten.
Vor allem in öffentlich-rechtlichen Verfahren vor Sozial- und Verwaltungsgerichten, ergeben sich Anknüpfungstatsachen ferner schwerpunktmäßig aus elektronischen Dokumenten, nämlich den Behördenakten aus dem Verwaltungsverfahren der beklagten Behörde, die ihrerseits eine Amtsermittlungspflicht hat. Die Anforderung der Verwaltungsvorgänge durch das Gericht ist deshalb Standard in allen Verfahren öffentlich-rechtlicher Gerichtsbarkeiten. Üblicherweise ergeben sich hieraus höchstens tatsächliche Verzögerungen, selten aber Rechtsprobleme. In den Fokus der Rechtsprechung gerät aber zunehmend die Anforderung elektronischer Verwaltungsvorgänge durch das Gericht.
Das „Original“ der Akten – sowohl hinsichtlich des Mediums (Papier oder elektronisch), als auch bezüglich des Dateiformats – hat den höchsten Beweiswert und stellt deshalb auch die ideale Anknüpfungstatsache dar. Jeder Umwandlungsprozess birgt das Risiko, dass tatsächliche Informationen verloren gehen oder elektronische Zertifikate gebrochen würden. Vorzulegen sind daher prinzipiell elektronische Dokumente in ihrem ursprünglichen Dateiformat. Für Sachverständige bedeutet dies: Bei elektronischen Akten im Speziellen, bei elektronischen Anknüpfungstatsachen im Allgemeinen, ist zu verlangen, dass der Sachverständige auch selbst digital arbeitet, damit er seinem Gutachten das „Original“ zugrunde legen kann.
Elektronische Übermittlungswege für Sachverständige
Anders als Rechtsanwälte, Notare und Steuerberater verfügen Sachverständige nicht kraft Funktion oder Profession über einen dezidierten elektronischen Übermittlungsweg zur Justiz. Es stehen aber mindestens zwei sichere Übermittlungswege grundsätzlich zur Verfügung, die es dem Sachverständigen erlauben, auch ohne qualifizierte elektronische Signatur Gutachten einzureichen.
Ideal für Sachverständige geeignet dürfte das besondere elektronische Bürger- und Organisationenpostfach (eBO) gem. § 130a Abs. 4 Nr. 4 ZPO sein.
Grundsätzlich denkbar ist für den Sachverständigen auch die Nutzung des „Mein Justizpostfach“ (MJP). In der Praxis dürfte das MJP aber gerade für die Nutzung durch Sachverständige ausscheiden. Denn der wesentliche Nachteil der Art und Weise der Identifizierung unter Nutzung des Personalausweises ist, dass stets die private Anschrift des Sachverständigen, wie sie auf dem Personalausweis angegeben ist, im SAFE-Verzeichnis sichtbar ist. Sie würde deshalb im Prozess unweigerlich bekannt werden, was zum Schutz des Sachverständigen unbedingt zu vermeiden ist.