BGH: Feierabend trotz ERV-Störung?

Kommt es zu Störungen des elektronischen Rechtsverkehrs, sieht das Gesetz eine Ersatzeinreichung vor, § 130d S. 2-3 ZPO. Die Einreichung kann also auf einem beliebigen anderen prozessrechtlich vorgesehenen Wege erfolgen – per Post, Fax oder Bote. Fraglich war lang, auf welchen Zeitpunkt es für die Beurteilung ankommt. Etwas mehr Klarheit bringt eine Entscheidung des BGH v. 25.5.2023 (V ZR 134/22). Die gute Nachricht ist: Auch wenn der elektronische Rechtsverkehr streikt, darf Feierabend gemacht werden.

Die Ersatzeinreichung gem. § 130d ZPO greift nur, wenn die Ursache der Störung technischer Natur ist.

Unmöglichkeit vs. Unvermögen

Grundsätzlich soll geltend, dass jede Form eines technischen Ausfalls nicht zum Nachteil des Einreichers gereicht. So können etwa auch Fehlbedienungen und vergessene Passwörter das Merkmal der technischen Störung erfüllen. [1] Entscheidend ist, ob die elektronische Übermittlung letztlich technisch unmöglich ist; dies ist im Fall des vergessenen Passworts dann gegeben, wenn auch unter zumutbaren Anstrengungen bspw. ein Zurücksetzen des Passworts nicht vornehmbar ist (bspw. weil auch ein technischer Support nicht rechtzeitig erreichbar ist). Nicht dagegen technisch unmöglich, ist es dagegen, wenn aufgrund der Uhrzeit/Feierabend dafür zurückgeschreckt wird, den eigentlich noch erreichbaren Support anzurufen oder, wenn dies aufgrund hierdurch erzeugter Mehrkosten unterbleibt. Entscheidend für das Merkmal der technischen Störung ist deshalb die rein technische Barriere, die von einer bloßen Unzumutbarkeit und Unsicherheit abzugrenzen ist.

Fehlendes Verschulden des Einreichers ist dagegen keine Voraussetzung. Im Falle einer vorsätzlichen Herbeiführung der Unmöglichkeit zum Zwecke der Ermöglichung einer Ersatzeinreichung dürfte freilich nach allgemeinen Regeln ein rechtsmissbräuchliches Verhalten anzunehmen sein, so dass sich der Einreicher auf seine Privilegierung nicht berufen kann.

Die Störung muss zur Unmöglichkeit der elektronischen Einreichung führen. Unvermögen des Einreichers genügt hierfür.

Nicht ausreichend ist dagegen sein – möglicherweise auch auf grundsätzlichen Erwägungen beruhender – Unwillen, Ängstlichkeit vor der Techniknutzung oder aber ein bloß vorübergehender erhöhter Aufwand der Nutzung eines elektronischen Übermittlungswegs (bspw. der Ausfall der Kanzleisoftware, wenn die beA-Weboberfläche zur Verfügung steht und früher auch genutzt wurde – anders dürfte die Sachlage sein, wenn die beA-Weboberfläche noch nie genutzt wurde und entsprechender Einarbeitungs- oder Einrichtungsaufwand notwendig wäre[2]).

Unmöglichkeit ist dann nicht mehr gegeben, wenn es technisch einfach, risikoarm und zumutbar ist, das Hindernis zu beheben. Die Grenzziehung dürfte indes hierfür schwierig sein. Es handelt sich letztlich um eine Abwägungsfrage im Einzelfall, die ex ante und aus Sicht des Absenders vorzunehmen ist. Letzterer dürfte hier wohl eine Einschätzungsprärogative haben, weil es um die von ihm vorzunehmende Risikoprognose geht. Maßstab dürfte die objektive Einschätzung eines vernünftigen Nutzers in der Situation (technische Ausstattung, Erfahrungsstand und Kenntnisse, prozessuale Situation, Haftungsrisiko) des Absenders sein.

So dürfte es regelmäßig zumutbar sein, bei Ausfall einer Telefonleitung einen Handyhotspot zu nutzen, wenn die technische Infrastruktur hierauf eingerichtet ist. Dass dagegen zunächst die beA-Komponenten durch einen Rechtsanwalt auf einen außerhalb des Kanzleinetzwerks befindlichen Rechner installiert werden, um dann über Mobilfunk eine Datenübertragung vorzunehmen, dürfte nicht regelmäßig nicht zumutbar sein. Diese Bewertung ist dagegen ggf. zu modifizieren, je länger der Leitungsausfall andauert und je größer die Möglichkeit ist, auch technische Unterstützung durch externe Dienstleister zu beauftragen.[3]

Ebenso lässt sich der Gedanke möglichem Rechtsmissbrauchs ins Feld führen. Für letzteres wäre wohl zunächst zu fordern, ob der anwaltliche Vortrag wirklich ausreichend war, um einen solch langen Ausfall sämtlicher Kommunikationsanbindung der Kanzlei glaubhaft zu machen (wie bspw. kommunizieren die Mandanten mit dem Rechtsanwalt – wie die es per Mobilfunk tun, wird man wohl auch davon ausgehen, dass das Handy zum Hotspot zu machen ist; dann wäre ggf. die elektronische Übermittlung tatsächlich gar nicht unmöglich gewesen?).

Glaubhaftmachung

Allerdings ist die vorübergehende Unmöglichkeit bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen.

Das ArbG Lübeck hat hierzu in einer vielbeachteten Entscheidung[4] gefordert, dass die Glaubhaftmachung der Störung stets erforderlich sei, selbst, wenn das Gericht Kenntnis von der Störung habe.

Zur Feststellung von Störungen empfiehlt es sich, den EGVP-Newsletter zu abonnieren, um per E-Mail über Störungen informiert zu werden. Auch ein Screenshot oder Log-Dateien der eingesetzten Anwaltssoftware kommen zur Glaubhaftmachung in Betracht.[5] Richtigerweise ist aber davon auszugehen, dass als Mittel der Glaubhaftmachung grundsätzlich eine anwaltliche oder behördliche Versicherung, jedenfalls aber eine eidesstattliche Versicherung, genügen, sofern die gesetzlichen Anforderungen an die Eingangsfiktion daraus ableitbar sind:

  • (nur) vorübergehende Störung,
  • technische Natur der Störung,
  • Unmöglichkeit der elektronischen Einreichung (zum maßgeblichen Zeitpuntk).

Die Versicherung darf deshalb nicht zu pauschal gehalten werden. Da die Rechtsprechung sich teilweise entgegen der hier vertretenen Auffassung eher streng zeigt und objektive Nachweise fordert, sollten Log-Dateien, Screenshots etc. sofern möglich dennoch vorgehalten und mit vorgelegt werden. Zur Feststellung von Störungen empfiehlt es sich, den EGVP-Newsletter zu abonnieren, um per E-Mail über Störungen informiert zu werden.

Auf Anforderung ist ein elektronisches Dokument nachzureichen. Hierdurch sollen die Scanaufwände des Gerichts minimiert werden.

Maßgeblicher Zeitpunkt

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob eine technische Unmöglichkeit vorlag ist der Zeitpunkt des beabsichtigten Versands des elektronischen Dokuments[6]; insbesondere also nicht erst der „letzte Moment“ vor Fristablauf. Lediglich, wenn eine Einreichung besonders lange (mehrere Tage oder Wochen) vor Fristablauf beabsichtigt war, ist zu hinterfragen, ob nicht eine spätere elektronische Übersendung zumutbar wäre. Letztlich ist die äußerste Grenze hier aber ein möglicher Rechtsmissbrauch.

Letztlich ist auch insoweit eine Einzelfallbetrachtung erforderlich. Die Erwägungen des Absenders sollten gerade in atypischen Fällen Gegenstand der Glaubhaftmachung sein.

[1] Gädeke in: jurisPK-ERV § 65d SGG Rn. 30 unter Hinweis auf BT-Drs. 17/12634, S. 27.

[2] Vgl. etwa BGH v. 17.12.2020 – III ZB 31/20; https://ervjustiz.de/bgh-wer-bea-nutzt-der-muss-es-auch-benutzen; siehe auch Windau, NZFam 2020, 71.

[3] Vgl. OVG Münster v. 6.7.2022 – 16 B 413/22; https://ervjustiz.de/%c2%a7-130d-zpo-wie-lange-ist-eigentlich-voruebergehend.

[4] ArbG Lübeck Urteil v. 1.10.2020 – 1 Ca 572/20 mAnm https://ervjustiz.de/arbg-luebeck-bei-aktiver-nutzungspflicht-sind-stoerungen-glaubhaft-zu-machen. Zwischenzeitlich auch das BAG v. 25. August 2022 – 6 AZR 499/21 – Rn. 39. Siehe auch BGH v. 10.10.2023 – XI ZB 1/23 Rn. 18 und v. 19.5.2023 – V ZR 14/23 Rn. 1.

[5] LAG Schleswig-Holstein Urteil v. 8.4.2021 – 1 Sa 358/20 mAnm. https://ervjustiz.de/lag-schleswig-holstein-korrekte-bea-bedienung-mit-screenshot-nachzuweisen.

[6] BGH v. 25.5.2023 – V ZR 134/22.

Autor: Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts