Die zur unzulässigen Containersignatur ergangene Rechtsprechung des BSG und des BAG war zwar jeweils hinsichtlich der Einhaltung der nach der ERVV vorgeschriebenen Form (in diesen Fällen der Art der qualifizierten elektronischen Signatur) streng. Beide Gerichte waren aber großzügig im Hinblick auf die Gewährung von Wiedereinsetzung. Dabei setzten sich die Gerichte insbesondere damit auseinander, ob den formfehlerhaft einreichenden Rechtssuchenden ein Verschulden trifft; insoweit gingen die Gerichte davon aus, dass ein Verschulden nur dann anzunehmen ist, wenn andererseits das Gericht seinen Hinweis- und Hinwirkungspflichten sorgfältig nachgekommen ist. Das Hessische Landesarbeitsgericht setzt sich in einem Urteil vom 18. Oktober 2018 – 11 Sa 70/18 einerseits mit den Anforderungen an die richterliche Hinweispflicht auseinander, zum anderen nimmt es aber auch kritisch in den Blick, ob die Rechtsunkenntnis der ERVV alleine überhaupt geeignet ist, einen Wiedereinsetzungsgrund darzustellen.
Im vorliegenden Fall ergebe sich ein Wiedereinsetzungsgrund nicht daraus, dass das Gericht seine Hinweispflicht verletzt habe.
Kontext der Entscheidung – die Rechtsprechung zur Containersignatur
Eine gerichtliche Hinweispflicht in Bezug auf die nicht ausreichende Übermittlung der Berufungsbegründung könne grundsätzlich aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG folgen, so das LAG. Die Verfahrensbeteiligten hätten einen Anspruch auf ein faires gerichtliches Verfahren. Die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht verpflichteten die Gerichte, eine Partei auf einen offenkundigen Formmangel eines bestimmenden Schriftsatzes hinzuweisen. Ein solcher liege bei der Übermittlung einer Rechtsmittelschrift durch ein elektronisches Dokument vor, wenn diese mit einer Container-Signatur im EGVP des Rechtsmittelgerichts eingehe. Ein Verfahrensbeteiligter könne erwarten, dass dieser Vorgang in angemessener Zeit bemerkt wird und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen würden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden. Unterbleibe ein gebotener Hinweis, sei der Partei Wiedereinsetzung zu bewilligen, wenn er bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen müssen, dass der Partei noch die Fristwahrung möglich gewesen wäre. Insoweit befindet sich das LAG Hessen vollständig auf der Linie des BAG und des BSG.
Könne der Hinweis im Rahmen ordnungsgemäßen Geschäftsgangs aber nicht mehr so rechtzeitig erteilt werden, dass die Frist durch die erneute Übermittlung des fristgebundenen Schriftsatzes noch gewahrt werden könne, oder gehe trotz rechtzeitig erteilten Hinweises der formwahrende Schriftsatz erst nach Fristablauf ein, scheide eine Wiedereinsetzung allein aus diesem Grund dagegen aus. Aus der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte folge keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Formalien eines als elektronisches Dokument eingereichten Schriftsatzes. Dies enthöbe die Verfahrensbeteiligten und deren Bevollmächtigte ihrer eigenen Verantwortung für die Einhaltung der Formalien und überspanne die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens (BVerfG 17. Januar 2006 – 1 BvR 2558/05 – Rn. 10; BAG 5. August 2018 – 2 AZN 269/18 – Rn. 11; 22. August 2017 – 10 AZB 46/17 – Rn. 16).
Unverschulden trotz Rechtsunkenntnis?
Verschulden iSv. § 233 Abs. 1 Satz 1 ZPO umfasst Vorsatz und Fahrlässigkeit jeder Art, § 276 BGB. Das Verschulden eines Prozessbevollmächtigten während des Bestehens eines wirksamen Mandats ist dem Verschulden der Partei gleichgestellt, § 85 Abs. 2 ZPO. Bei einem Rechtsanwalt gilt ein objektiver Sorgfaltsmaßstab. Es ist auf die übliche Sorgfalt eines ordentlichen Rechtsanwalts in der jeweiligen Prozesssituation abzustellen (Grandel, in: Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 233 Rn. 4).
Ausgehend von diesem Maßstab nimmt das Hessische LAG den einreichenden Rechtsanwalt in die Pflicht: Gehe es um die Beurteilung der Rechtslage werde von Rechtsanwälten grundsätzlich die Kenntnis bundesrechtlicher Normen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen, vorausgesetzt. Ebenso wird erwartet, dass Rechtsanwälte sich über Änderungen dieser normativen Regelungen innerhalb angemessener Frist informieren.
Die Rechtsfolge ist danach eindeutig:
Eine Fristversäumung ist daher grundsätzlich als verschuldet anzusehen, wenn sie auf Gesetzesunkenntnis des Anwalts beruht.
(BayVerfGH 10. Dezember 1993 – Vf.150-VI-92 -, NJW 1994, 1857 <1858>; Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 233 ZPO Rn. 23).
Zeitpunkt der Hinwirkungspflicht
Ausgehend vom Begriff des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs, den BAG und BSG in ihren Entscheidungen herangezogen haben, nimmt das Hessische LAG die Verfahrensbeteiligten in seiner Entscheidung in die Realität eines Instanzgerichts mit.
Es gilt:
Ordnungsgemäß bedeutet nicht sofort!
So führt das LAG zum Geschäftsgang aus:
„Die Berufungsbegründung ist am 15. Februar 2018 (Donnerstag) und damit zwei Arbeitstage vor Fristablauf am 19. Februar 2018 (Montag) bei Gericht eingegangen. Es kann dahinstehen, ob diese knappe Zeitspanne im Rahmen eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs noch erwarten lässt, dass der Formfehler rechtzeitig bemerkt wird. Denn es mangelt jedenfalls an einem für das Gericht ohne weiteres erkennbaren, offenkundigen Formfehler. Die Beklagte hat die elektronisch übermittelte Berufungsbegründung mit einer eingescannten Unterschrift versehen. Ihr war bekannt, dass die per EGVP eingehenden Schriftsätze bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht ausgedruckt und in Papierform zu Akte genommen werden. Da die Schriftform entsprechend § 130 Nr. 6 Alt 2 ZPO gewahrt wäre, wenn das elektronisch übersandte Dokument im Original handschriftlich unterzeichnet und dann ausgedruckt worden wäre (vgl. BGH 18. März 2015 – XII ZB 424/14 – Rn. 10; 15. Juli 2008 – X ZB 8/08 – Rn. 13), war bei der Arbeit mit der Papierakte weder für die Geschäftsstelle noch für den entscheidenden Richter ohne weitere Nachforschungen erkennbar, dass die Berufungsbegründung unter einem Formmangel litt. Dies gilt umso mehr als die Übersendung einer im Original handschriftlich unterzeichneten, dann eingescannten Rechtsmittelschrift per EGVP im Geschäftsgang der entscheidenden Kammer nichts Ungewöhnliches ist. Der Kammervorsitzende hatte daher bei Befassung mit der Berufungsbegründung am 16. Februar 2018 keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die dem ersten Eindruck nach formwahrende Berufungsbegründung tatsächlich mit einem Formfehler behaftet sein könnte. Eine anlasslose Pflicht, die Formalien einer als elektronisches Dokument eingereichten Rechtsmittelschrift zu prüfen, trifft die Gerichte von Amts wegen nicht. Ausgehend davon kann nicht von der Verletzung einer gerichtlichen Hinweispflicht ausgegangen werden.“
Fazit – Vorsicht vor allem, aber nicht nur, bei Ausreizung von Fristen
Unabhängig davon, dass die Rechtsprechung des BGH zur „Formwahrung durch Ausdruck“ nicht widerspruchslos ist, zeigt das LAG zu Recht auf, dass die Verfahrensbeteiligten bei Ausreizung der Frist nicht erwarten können, dass eine richterliche Beurteilung und ein entsprechender Hinweis noch innerhalb der Frist erfolgt.
Dem Hessischen LAG ist daher zuzustimmen: Es gibt keinen Automatismus für eine Wiedereinsetzung bei Formfehlern im elektronischen Rechtsverkehr. Die Rechtsprechung bezieht sich insoweit nicht nur auf die Verwendung der Containersignatur, sondern auf sämtliche Fehler bei der Anwendung der ERVV.
Weitere Informationen zur einzuhaltenen Form nach der ERVV erhalten Sie hier.