OLG Koblenz: Durchsuchbarkeit keine zwingende Formvorschrift

Nach dem der technikaffine 3. Zivilsenat des OLG Koblenz in einem vielbeachteten Hinweisbeschluss vom 9.11.2020 schon angemerkt hat, dass die ERVB (teilweise) nichtig sein könnten, geht es in einem Beschluss vom 23.11.2020 (3 U 1442/20) um die Frage, ob die Durchsuchbarkeit eines Schriftsatz – also die Texterkennung – eine zwingende Formvoraussetzung ist. Insbesondere das Bundesarbeitsgericht (BAG, Beschluss vom 12.03.2020, 6 AZM 1/20; BAG, Urteil vom 03.06.2020, 3 AZR 730/19) hatte dies ohne nähere Diskussion bisher angenommen. Dem stellt sich das OLG Koblenz entgegen: Ein Automatismus der Formunwirksamkeit verbiete sich; vielmehr bedürfe es einer Abwägung im Einzelfall.

Aus den Gründen

Ob die entgegen § 2 Abs. 1 ERVV fehlende Durchsuchbarkeit von elektronisch eingereichten bestimmenden Schriftsätzen stets dazu führt, dass diese elektronischen Dokumente als nicht zur Bearbeitung durch das Gericht geeignet im Sinne des § 130a Abs. 2 Satz 1 ZPO – und damit vorbehaltlich einer Heilung nach § 130a Abs. 6 ZPO als unzulässig – anzusehen sind, ist umstritten. Das OLG stellt daher ausführlich, die beiden sich gegenüberstehenden Ansicht dar:

Insbesondere das BAG (BAG, Beschluss vom 12.03.2020, 6 AZM 1/20; BAG, Urteil vom 03.06.2020, 3 AZR 730/19) meint, ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1 ERVV führe stets dazu, dass ein Dokument nicht zur Bearbeitung durch jedes Gericht geeignet sei. Die ERVV konkretisiere gemäß § 130a Abs. 2 Satz 2 ZPO die Anforderungen an ein zur Bearbeitung geeignetes Dokument bundeseinheitlich für jedes Gericht. Wegen der Heilungsmöglichkeiten des § 130a Abs. 6 ZPO bestünden keine Bedenken gegen die Vereinbarkeit dieser Regelungen mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes.

Die Gegenauffassung geht letztlich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Formvoraussetzungen zurück (Beschluss vom 22.10.2004, 1 BvR 894/04): Danach darf der Zugang zu den Gerichten durch Anforderungen des formellen Rechts nicht in unverhältnismäßiger Weise erschwert werden, weshalb nicht stets bei einem Verstoß gegen die Formvorgaben der ERVV von der Nichtgeeignetheit des Dokuments
zur Bearbeitung durch das Gericht ausgegangen werden dürfe. Vielmehr bedürfe es einer Abwägung im Einzelfall, bei der stets der Zweck der verletzten Regelung (vgl. jurisPK-ERV/H. Müller, 1. Aufl. 2020, § 130a ZPO, Rn. 41 ff.; jurisPK-ERV/Rieke, 1. Aufl. 2020, § 158 SGG Rn. 15; in diese Richtung auch Mardorf, jM 2020, 266, 269) und die Folge
des Verstoßes für die Bearbeitbarkeit durch das jeweilige Gericht (vgl. LG Mannheim, Urteil vom 04.09.2020, 1 S 29/20, juris) zu berücksichtigen seien.

Das OLG Koblenz schließt sich dieser letztgenannten Ansicht an. Zwar dürfe nicht außer Acht bleiben, dass die Regelungen der ERVV neben dem Individualrechtsschutz zugleich auch der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit dienen und deshalb einen einzelfallunabhängigen Geltungsanspruch erheben (vgl. BGH, Beschluss vom
15.05.2019, XII ZB 573/18, Rn. 20 zur Unzulässigkeit der Container-Signatur gemäß § 4 ERVV), dies bedeute aber nicht zugleich, dass jeder Verstoß gegen die ERVV zur starren Rechtsfolge der (nach § 130a Abs. 6 ZPO heilbaren) Formunwirksamkeit führe. Denn § 130a Abs. 2 ZPO, den die ERVV näher ausgestaltet, solle lediglich gewährleisten, dass eingereichte elektronische Dokumente für das Gericht lesbar und bearbeitungsfähig seien (siehe BT-Drucks. 17/12634, Seite 25). Vor dem Hintergrund
dieses Zwecks sei auch die Rechtsfolge eines Verstoßes zu bestimmen.
Formunwirksamkeit tritt aus Sicht des Senats dann ein, wenn der Verstoß dazu führt, dass eine Bearbeitung durch das Gericht nicht möglich ist, z. B. weil sich die eingereichte Datei nicht öffnen bzw. der elektronischen Akte nicht hinzufügen lässt oder weil sie schadcodebelastet ist. Demgegenüber führen Verstöße gegen die ERVV dann nicht zur Formunwirksamkeit des Eingangs, wenn sie lediglich einen bestimmten Bearbeitungskomfort sicherstellen sollen, nicht aber der Lesbarkeit und Bearbeitbarkeit
als solches entgegenstehen (jurisPK-ERV/H. Müller, 1. Aufl. 2020, § 130a ZPO, Rn. 43). Diese Differenzierung ergebe sich teilweise auch aus der ERVV selbst, die neben Muss-Vorschriften auch Soll-Bestimmungen enthält (z. B. § 2 Abs. 2 ERVV, § 3 ERVV).

Dasselbe gilt nach Auffassung des Senats aber auch für Regelungen, die zwar nach dem Wortlaut der ERVV zwingend zu beachten sind, der Sache nach aber nicht die Lesbarkeit und/oder Bearbeitbarkeit durch das Gericht sicherstellen, sondern lediglich einen bestimmten Bearbeitungskomfort ermöglichen sollen.

Dies sei für das Kriterium der Durchsuchbarkeit in § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV der Fall. Hierfür spreche schon, dass der Verordnungsgeber selbst die Durchsuchbarkeit nicht für unverzichtbar erachtet, sondern sie nur fordert, soweit sie technisch möglich ist, was nach der Verordnungsbegründung z. B. dann nicht der Fall sein soll, wenn das Ausgangsdokument handschriftliche oder eingeschränkt lesbare Aufzeichnungen enthalte
(vgl. BR-Drucks. 645/17, Seite 12). Auch aus dem Zweck der Regelung ergebe sich, dass es sich der Sache nach nicht um eine zwingende Anforderung, sondern lediglich um eine Komfortfunktion im Rahmen der Bearbeitung elektronischer Akten handelt. Durch die Einreichung durchsuchbarer Dokumente solle nämlich zum einen das maschinelle Vorlesen für blinde und sehbehinderte Personen und zum anderen die elektronische Weiterbearbeitung durch die Gerichte (insb. Volltextsuche) erleichtert werden (vgl. BR-Drucks. 645/17, Seite 12). Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit des barriefreien Zugangs und der Volltextsuche bei elektronischer Aktenführung nicht nur für Dokumente bestehen sollte,
die nach § 130a ZPO elektronisch eingereicht wurden, sondern auch für durch das Gericht selbst erstellte elektronische Dokumente (§ 130b ZPO) sowie für Dokumente, die in Papierform eingereicht und durch das Gericht in die elektronische Form übertragen wurden (§ 298a Abs. 2 ZPO). Aus diesem Grund müsse die Justiz ohnehin technische Lösungen vorhalten, die die Durchsuchbarkeit von Dokumenten herstellen (vgl. insoweit auch § 298 Abs. 1a Satz 2 ZPO). Berücksichtige man ergänzend, dass bei elektronischer Aktenführung ohnehin das Erfordernis besteht zur Vereinheitlichung und
Qualitätssicherung nicht mit den auf verschiedenen Wegen eingegangenen
„Originaldokumenten“ zu arbeiten, sondern mit sogenannten Repräsentatsdateien (siehe dazu ausführlich jurisPK-ERV/Gomm, 1. Aufl. 2020, Kapitel 7.1 Rn. 128 ff.; vgl. auch § 3 Abs. 3 BGAktFV), die in einem einheitlichen technischen Verfahren aufbereitet würden, das auch die Durchsuchbarkeit sicherstelle, bestehe auch tatsächlich kein Erfordernis, die Durchsuchbarkeit elektronisch eingereichter Dokumente als zwingende
Formvorschrift anzusehen. Denn die Durchführung des Verfahrens nach § 130a Abs. 6 ZPO würde auf dieser Grundlage einen bloßen Formalismus darstellen, durch den die Bearbeitbarkeit des Dokuments (bzw. des Repräsentats) nicht verändert werde.

Es handelt sich bei der Vorgabe der Durchsuchbarkeit in § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV mithin lediglich um eine Ordnungsvorschrift, deren Verletzung nicht zur Unwirksamkeit des Eingangs führt.

Hintergrund „Durchsuchbarkeit“

Der Begriff der „Durchsuchbarkeit“ bezieht sich auf darauf, dass das Dokument in texterkannter Form (OCR) einzureichen ist. Dies ergibt sich aus der Verordnungsbegründung (S. 12) und dem Zweck der Vorschrift. Der Sinn und Zweck ist ausweislich der Verordnungsbegründung, die pragmatische Idee, dass hierdurch die Weiterbearbeitung im Gericht und bei weiteren Verfahrensbeteiligten gefördert wird.

… die Anforderungen ermöglichen das barrierefreie elektronische Vorlesen des elektronischen Dokuments für blinde und sehbehinderte Personen und erleichtern die elektronische Weiterverarbeitung durch die Gerichte, Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher, Behörden, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und weiteren Verfahrensbeteiligten, denen das elektronische Dokument übermittelt wird.

Die Verordnungsbegründung führt weiter aus: Ein eingescannter Schriftsatz kann als elektronisches Dokument übermittelt werden, wenn es mit einem Texterkennungsprogramm als OCR-Scan (Optical Character Recognition) erstellt wurde. Zudem wird – neben diesem Hinweis aus der Verordnungsbegründung – der Regelfall sein, dass der Schriftsatz mit einem Textverarbeitungsprogramm erstellt wurde, das ein Abspeichern als PDF zulässt.

Nähere Informationen zur Durchsuchbarkeit –> hier.

Hintergrund „Dateiformat im elektronischen Rechtsverkehr“

Zulässiges Dateiformat für formbedürftige Schriftsätze im elektronischen Rechtsverkehrs ist gem. § 2 Abs. 1 ERVV grundsätzlich eine druckbare, kopierbare und, soweit technisch möglich, durchsuchbare PDF-Datei. Zusätzliche Beschränkungen ergeben sich aber aus den Bekanntmachungen der Bundesregierung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 ERVV. Diese sind unter www.justiz.de einsehbar.

Die ERVB 2018 (Bekanntmachung zum elektronischen Rechtsverkehr gem. § 5 ERVV) sehen als Dateiversionen für PDF-Einreichungen PDF einschließlich Version 2.0 (also sämtliche ältere Formate), PDF/A-1, PDF/A-2 und PDF/UA vor. Weitere Einschränkungen ergeben sich aus den ERVB 2019

 

Autor: Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts