Bayerisches LSG: Ein Stempel macht noch keinen Eingang

§ 130a Abs. 5 S. 1 ZPO (= § 65a Abs. 5 S. 1 SGG) ist eindeutig: Es kommt auf den elektronischen Eingang „auf der Empfangseinrichtung des Gerichts an“. Ob das Gericht auch einen Eingangsstempel angebracht hat, ist dagegen unerheblich. Das gilt erst Recht, wenn der Stempel das falsche Datum ausweist. Mit einem solchen Fall musste sich das Bayerische LSG (v. 30.3.2023 – L 4 P 76/22) beschäftigen und wies auf die Berufung das Verfahren zur erneuten Entscheidung in die ersten Instanz zurück

Sachverhalt

Die Poststelle des Sozialgerichts hatte auf einem elektronischen Posteingang einen Eingangsstempel angebracht, der nicht das Datum des tatsächlichen elektronischen Eingangs auswies, sondern einen späteren Zeitpunkt. Die Kammer zog für seine Entscheidung eben diesen Eingangsstempel heran und ging von einer Verfristung der Klage aus.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Das LSG hob die Entscheidung des SG auf und verwies das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das SG zurück. Der Eingangsstempel habe keine rechtliche Bedeutung. Entscheidend sei alleine der elektronische Eingang. Dieser ergebe sich aus dem Transfervermerk bzw. Prüfvermerk

Anmerkung

Für die Prüfung von Rechtsbehelfsfristen kommt es nach allgemeinen Regeln darauf an, wann der Rechtsbehelf dem zuständigen Gericht zugeht. Im Falle der Einreichung einer Klageschrift ist dies dann der Fall, wenn diese bestimmungsgemäß in den Machtbereich des Gerichts gelangt.

130a Abs. 5 Satz 1 ZPO bestimmt zur Feststellung der Fristwahrung, dass das elektronische Dokument im Gericht eingegangen ist, sobald es auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist. Der BGH (siehe bspw. BGH v. 14.05.2020 – X ZR 119/18; BGH v. 25.08.2020 – VI ZB 79/19; BGH v. 11.5.2021 – VIII ZB 9/20; Müller, RDi 2021, 210 ff. – siehe kostenpflichtig beck-online) hatte zwischenzeitlich mehrfach Gelegenheit klarzustellen, dass das elektronische Dokument beim Gericht eingegangen ist, sobald es auf dem für den Empfang bestimmten Server des Gerichts (genauer: in der vom Gericht genutzten Infrastruktur, denn der Server muss sich gerade nicht räumlich im Gericht befinden) gespeichert worden ist.

Daran anschließende gerichtsinterne Vorgänge spielen für den Eingangszeitpunkt dagegen keine Rolle (BGH v. 14.05.2020 – X ZR 119/18 Rn. 12; BGH v. 28.05.2020 – I ZR 214/19 Rn. 7; BGH v. 25.08.2020 – VI ZB 79/19). Aus gerichtsinternen Versäumnissen dürfen für den Einreicher keine Verfahrensnachteile resultieren. Hierzu zählt insbesondere, wenn das Gericht nicht in der Lage ist oder schlicht versäumt, das elektronische Dokument vom Intermediär abzuholen oder für eine (noch) führende Papierakte auszudrucken. Macht der Absender Fehler bei der Eingabe der (Meta-)Daten gem. § 2 Abs. 2-3 ERVV, hat dies für ihn keine nachteiligen Rechtsfolgen. Das Gericht muss mit dem elektronischen Dokument umgehen können, auch wenn durch die fehlerhaften Daten die (teil-)automatisierte Weiterverarbeitung des Gerichts beeinträchtigt wird (OLG Zweibrücken v. 07.12.2020 – 1 OWi 2 Ss Bs 165/20).

Die Empfangseinrichtung des Gerichts ist für alle auf EGVP basierenden Übermittlungswege (EGVP, beA, beN, beSt, beBPo und eBO) der EGVP-Intermediär. Hierbei handelt es sich um einen nicht im jeweiligen Gericht befindlichen Server der EGVP-Infrastruktur, der sowohl Ablagepunkt für die Nachricht des Absenders als auch Abholpunkt für den Empfänger ist. Das für die Fristwahrung maßgebliche Datum lässt sich sowohl dem Transfervermerk, dem Prüfvermerk, als auch dem Prüfprotokoll „inspectionsheet.html“ entnehmen („Eingang auf dem Server“).

Es kommt – so stellt es auch das Bayerische LSG zu Recht fest – insbesondere nicht auf den gerichtlichen Eingangsstempel an (der freilich grundsätzlich das richtige Datum abbilden müsste), noch auf den Zeitpunkt der Signatur oder den Zeitpunkt der Erstellung des Transfervermerks (die letzten beiden Zeitpunkte könnten in die Irre führen, weil sie ebenfalls auf dem Transfervermerk abgedruckt sein können). Die meisten Justiz-Geschäftsordnungen sehen deshalb auch nicht mehr die Anbringung eines Eingangsstempels bei elektronischen Posteingängen vor. Verwirrung wird dadurch von Vornherein vermieden. Richterinnen und Richter müssen sich daran gewöhnen (eigentlich lange schon gewohnt haben) bei jedem fristbedürftigen Posteingang den Transfer- bzw. Prüfvermerk zu betrachten; aus ihm ergeben sich die Fristwahrung, aber auch viele weitere Hinweise zur Formwirksamkeit (Dateiformat, Signatur, sicherer Übermittlungsweg).

Bemerkenswert für ein Landessozialgericht ist die Rechtsfolge. Das Berufungsgericht verweist das Verfahren nämlich wegen der rechtsfehlerhaften Beachtung des Datums des aufgebrachten, fehlerhaften Eingangsstempels (und damit der Annahme der Verfristung) anstelle des elektronischen Posteingangszeitpunkts, zurück in die erste Instanz. Durchaus unüblich in der Sozialgerichtsbarkeit in Anbetracht der hohe Belastung der erstinstanzlichen Sozialgerichte – hieran lässt sich ermessen, welch hohe Bedeutung das LSG dem Fehler des Sozialgerichts zumisst:

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Das ihm durch § 159 Abs. 1 SGG eingeräumte Ermessen übt der Senat dahin aus, dass er den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückverweist. Bei der Ermessensausübung im Rahmen von § 159 Abs. 1 SGG hat das Landessozialgericht das Interesse der Beteiligten an einem möglichst baldigen Verfahrensabschluss einerseits und ihr Interesse, keine Instanz zu verlieren, andererseits zu würdigen (BeckOGK/Sommer, Stand: 1.5.2021, SGG § 159 Rn. 16). Berücksichtigt werden darf insoweit die Arbeitsbelastung der ersten und zweiten Instanz, die Bedeutung des Verfahrensfehlers, prozessökonomische Gesichtspunkte, der Wille der Beteiligten, aber auch, ob das erstinstanzliches Verfahren überhaupt Grundlage für das Berufungsverfahren sein kann.
Nach diesem Maßstab sprechen nach Auffassung des Senats die gewichtigeren Gründe für eine Zurückverweisung, insbesondere das Interesse der Klägerin, keine Instanz zu verlieren. Zudem ist der Umfang der erforderlichen Amtsermittlung völlig offen (§ 103 SGG). Schließlich bejaht der Senat den Ausnahmefall einer Zurückverweisung auch im Hinblick auf die kurze Dauer des Berufungsverfahrens von unter vier Monaten und den ausdrücklichen Zurückverweisungsantrag der Klägerin.“

Autor: Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts