Die Rechtsmittelbelehrungen in Urteilen und Widerspruchsbescheiden waren schon Gegenstand zahlreicher Entscheidungen. Gerade im Zuge der COVID-19 – Pandemie geraten immer häufiger auch die Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelbelehrungen der Verwaltung in den Focus. Behörden haben viel öfter und auf viel mehr Übermittlungswegen den elektronischen Rechtsverkehr eröffnet, als ihnen bewusst und auch lieb ist. Die Rechtsauffassung der Sozial- und der Verwaltungsgerichtbarkeit klafft insoweit traditionell auseinander. Zu einem klaren Ergebnis zugunsten des Widerspruchsführers kommt in einer aktuellen Entscheidung des LSG Schleswig (v. 6.5.2021 – L 6 AS 64/21 B ER). Dieser Entscheidung ist zuzustimmen.
Gegenstand der Entscheidung
Gegenstand der Entscheidung ist letztlich die Zulässigkeit eines erst nach Ablauf der Monatsfrist eingelegten Widerspruchs. Entscheidend für die Fristwahrung war daher, ob die Rechtsbehelfsbelehrung im Ausgangsbescheid (Widerspruchsbelehrung) richtig und vollständig war.
Das LSG Schleswig gibt die Rechtsbehelfsbelehrung wie folgt wieder:
„Gegen diesen Bescheid kann jeder Betroffene oder ein von ihm bevollmächtigter Dritter innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch erheben. Für minderjährige oder nicht geschäftsfähige Personen handelt deren gesetzlicher Vertreter. Der Widerspruch ist schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle einzulegen.
Soweit der Widerspruch durch eine/n Bevollmächtigte Rechtsanwältin
/Rechtsanwalt eingelegt wird, kann diese/r zur wirksamen Ersetzung der Schriftform den Widerspruch als elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, auch über das besondere Anwaltspostfach (beA), übermitteln.“
Der Bescheid enthielt als Briefkopf die Behördenbezeichnung und neben der Durchwahl und Telefaxnummer des Antragsgegners eine E-Mail-Adresse (Jobcenter-……@……de).
Rechtlicher Hintergrund
Fraglich ist im vorliegenden Fall, ob die Rechtsbelehrung vollständig war. Gem. § 66 Abs. 1 SGG muss sie über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist.
§ 66 Abs. 2 SGG bestimmt: Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, daß ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei.
Ob eine vollständige Rechtsbehelfsbelehrung auch eine Belehrung über die Formvoraussetzungen erfordert, wird in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten uneinheitlich angenommen.
In der Verwaltungsgerichtsbarkeit wird weitgehend mit Blick auf den Wortlaut des § 58 Abs. 1 VwGO, der nur die Frist, aber nicht die Form nennt, vertreten, eine Belehrung über die Form der Rechtsbehelfseinlegung sei insgesamt nicht erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Rechtsbehelfsbelehrung daran zu messen, ob sie aus sich heraus verständlich, vollständig und richtig ist.
Die Sozialgerichtsbarkeit hält dagegen überwiegend eine Belehrung über die einzuhaltende Form für zwingend, weil der Bürger diese Information benötige, um die ersten Schritte zum zulässigen Rechtsbehelf zu finden (sog. Wegweiserfunktion).
Auch nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausreichend ist jedenfalls ein unvollständiger Hinweis auf den Elektronischen Rechtsverkehr, bspw. nur der Hinweis auf die Einreichungsmöglichkeit mit qualifizierter elektronischer Signatur, nicht aber auch über einen sicheren Übermittlungsweg (so im Fall des OVG NRW v. 27.11.2020 – 11 A 1531/19).
Zu den Hintergründen des elektronischen Rechtsverkehrs mit Behörden: –> hier.
Tragende Gründe des Beschlusses des LSG Schleswig
Das LSG Schleswig hält die Rechtsbehelfsbelehrung zu Recht für unvollständig:
„Die Rechtsmittelbelehrung des Antragsgegners ist unzutreffend, da er nicht über die Möglichkeit der elektronischen Einreichung durch die Antragsteller belehrt hat. Der Antragsgegner hat vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass (nur) bevollmächtigte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Widersprüche durch ein elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, über das besondere Anwaltspostfach übermitteln können. Daraus lässt sich im Umkehrschluss ableiten, dass ein Widerspruch im Übrigen nur schriftlich
oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle möglich ist. In diesem Sinne möchte der Antragsgegner auch die Widerspruchsmöglichkeit handhaben, nach seinem Verständnis sollen Widersprüche durch Naturparteien nicht elektronisch über das EGVP erfolgen (können).
Dies entspricht jedoch nicht der Rechtslage und auch nicht den technischen Möglichkeiten des Antragsgegners. Nach § 36 a Abs. 1 SGB I ist die Übermittlung elektronischer Dokumente zulässig, soweit der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet. Eröffnen bedeutet dabei mehr als ein rein technischer Zugang etwa im Rahmen eines Testbetriebes. Eröffnen bedeutet am Maßstab einer digitalen Zugangsermöglichung die Möglichkeit der Nutzung von digitalen Behördenadressen.“
Dabei lässt das LSG Schleswig offen, ob die hier vorgenommene Verwendung einer E-Mail Kennung auf dem Briefkopf des Bescheides bereits für die Annahme ausreicht, dass die elektronische Kommunikation ermöglicht sein soll.
Siehe zum elektronischen Rechtsverkehr mittels E-Mail: –> hier (VG Kassel) und hier (SG Darmstadt).
Das LSG meint nämlich richtigerweise zum beBPo des Jobcenter folgendes:
„Die konkludente Widmung durch den Antragsgegner besteht jedoch
darin, dass der Antragsgegner sich für die Nutzung der digitalen Kommunikation spätestens mit Aufnahme der Behördenadresse in das Adressverzeichnis des EGVP empfangsbereit gezeigt hat. Dafür ist kein aktives Tun erforderlich, der Antragsgegner hat seine Listung in einem hierfür vorgesehenen öffentlichen Verzeichnis bewusst hingenommen. Dass er subjektiv nur mit bestimmten Institutionen und nicht mit Naturparteien kommunizieren wollte, ist unerheblich. Es kommt auch nicht darauf an, ob er auf der homepage oder in den Merkblättern direkt auf den Zugang hinweist und so nach außen kein aktiver Wille des Antragsgegners erkennbar ist, wonach Naturparteien Widersprüche mittels EGVP einlegen können. Die (tatsächliche) Einrichtung eines besonderen elektronischen Behördenpostfachs (beBPo), das sowohl Bürger über einen EGVP-Client und Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte über ihr besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) ohne Weiteres erreichen können, bewirkt automatisch die Eröffnung des Zugangs über das besondere Behördenpostfach (beBPo), weil dieses im EGVP-Adressbuch für jeden sichtbar ist (Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 1. Aufl., § 36a SGB I (Stand: 03.05.2021), Rn. 29). Auf das entsprechende EGVP-Verzeichnis für Behörden in Schleswig-Holstein wird auch im Internetauftritt des EGVP in allgemeiner Form hinwiesen.“
Insbesondere sei es im elektronischen Rechtsverkehr einer Behörde verwehrt, den Zugang für die elektronische Kommunikation auf einen bestimmten Kreis potentieller Absender (hier also: die Rechtsanwaltschaft) zu beschränken. Auch wenn die Behörde zunächst nur mit den Gerichten und dann mit der Anwaltschaft kommunizieren wollte, sei nach § 36 a Abs. 1 SGB I mit der Aufnahme des EGVP der generelle Zugang elektronisch eröffnet worden (idS auch SG Berlin, Urteil vom 8. Dezember 2020, S 179 AS 10734/19). Im Übrigen entspreche die Behörde damit auch ihrer Verpflichtung aus § 52 b Abs. 1 Landesverwaltungsgesetz (LVwG SH), wonach seit dem 1. Januar 2018 jede Behörde in Schleswig-Holstein einen Zugang für die Übermittlung elektronischer Dokumente eröffnet (ausführlich hierzu bereits die Entscheidung des erkennenden Senats, Beschluss vom 20. Dezember 2018 – L 6 AS 202/18 B ER).
Unter Praktikabilitätsgesichtpunkten schränkt des LSG sein Ergebnis leicht wie folgt ein:
„Auch wenn es für Privatpersonen wenig praktikabel sein mag, besteht auch für diese die Möglichkeit, eine elektronische Signaturkarte bei der Bundesnotarkammer zu erwerben und den EGVP mit dem Antragsgegner rechtswirksam zu nutzen. Es ist nicht erkennbar, dass ein von einer Naturpartei formgemäß über das EGVP mit einer eigenen digitalen Signatur erhobener Widerspruch von dem Antragsgegner wegen Verletzung von Formvorschriften als unzulässig verworfen werden könnte. Daraus ergibt sich, dass auch über eine solche Möglichkeit in der Rechtsbehelfsbelehrung zumindest in allgemeiner Form unterrichtet werden muss.“
Gefahren durch die konkludente Zugangseröffnung
Aufgrund des bestehenden beBPos musste sich das LSG Schleswig hier nicht mit der konkludenten Zugangseröffnung durch die Behörde auseinandersetzen. Auch eine solche war aber wohl gegeben – und dürfte es zumeist sein:
Soll eine rechtsverbindliche Kommunikation mittels bestimmter Kommunikationsmittel – bspw. mittels E-Mail – gänzlich nicht stattfinden, lässt sich die Zugangseröffnung dann (nur) durch einen ausdrücklichen, einfach verständlichen Disclaimer verhindern. Es ist zu empfehlen, diesen unmittelbar in räumlicher Nähe zu der E-Mail-Adresse auf dem Briefkopf zu formulieren, dass diese für Rechtsbehelfe oder allgemein für eine rechtsverbindliche Kommunikation nicht zugelassen wird („Eine rechtsverbindliche Kommunikation mittels E-Mail ist nicht zugelassen.“).
Die bausteinartig vorgehaltenen Rechtsmittelbelehrungen sind kritisch dahingehend zu überprüfen, ob – wenn über die Form belehrt wird (was jedenfalls im Sozialrecht erforderlich und andernfalls zumindest bürgerfreundlich ist) – sämtliche eröffneten Übermittlungswege erfasst sind. Die Belehrung muss dann auf den Übermittlungsweg selbst und grundlegende Formanforderungen dieses Übermittlungswegs (bspw. die Notwendigkeit der Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur) benennen; wegen Details darf sie auf weitere Angaben im Internet (bspw. die Homepage der Behörde) verweisen.
An dieser Stelle anzunehmen, dass nur Kommunikationswege, die eine in der Rechtsbehelfsbelehrung genannte Form einhalten können (d.h., wenn die Rechtsbehelfsbelehrung schriftlich oder zur Niederschrift nennt, ist eine E-Mail ausgeschlossen), griffe zu kurz. § 3a Abs. 1 VwVfG / 36a Abs. 1 SGB I haben unterschiedliche sachliche und systematische Funktionen: Während es in § 3a Abs. 1 VwVfG / § 36a Abs. 1 SGB I um die (konkludente) „Eröffnung“ des Zugangs geht, würde der Verweis auf die Rechtsbehelfsbelehrung gerade zu einer „konkludenten Verschließung“ eines (möglicherweise faktisch zugänglichen) elektronischen Zugangs bedeuten. Eine solche Annahme wäre mit der Wegweiserfunktion – die ja gerade eindeutig sein soll und dem Interesse des Bürgers dient – unvereinbar.
Überblick zur Rechtsfragen der Rechtsbehelfsbelehrungen: –> hier.