SG Gießen zur Akteneinsicht in xJustiz-Akten

Sowohl im sozialgerichtlichen Verfahren als auch im Widerspruchsverfahren ist die Behördenakte ein wichtiges Beweismittel. Entsprechend zentral für eine Widerspruchs- oder Klagebegründung ist die vorherige Akteneinsicht in die Behördenakte. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) übermitteln ihre elektronische Behördenakten als Einzel-PDF – Dateien, deren Kontext durch einen sog. xJustiz-Datensatz hergestellt wird. Für deren Anzeige wird daher ein xJustiz-Viewer benötigt.  Dass durch Übermittelung einer solchen xJustiz-Akte ausreichend Akteneinsicht ausreichend Akteneinsicht gewährt wird, hat nun das SG Gießen (Gerichtsbescheid v. 5. November 2021 – S 20 AL 70/21) entschieden.

Hintergrund der Entscheidung

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragte in zwei Widerspruchsverfahren gegen die Bundesagentur für Arbeit Akteneinsicht in die vollständigen Verwaltungsvorgänge.  Die Beklagte übermittelte ihr jeweils Aktenbestandteile.

In dem Verfahren des SG Gießen verlangt der Kläger die „vollständige Akteneinsicht“.

Im Klageverfahren wurde ihr sodann weiter Akteneinsicht in die „xJustiz-Akte“ der Bundesagentur für Arbeit gewährt. Daraufhin hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, „mangels einer Paginierung der einzelnen Dokumente, die in den jeweiligen pdf-files vorhanden seien, müsse der Kläger darauf bestehen, dass der zuständige Verfahrensbevollmächtigte der Beklagten die Richtigkeit und Vollständigkeit der an das Gericht übersandten Verwaltungsvorgänge an Eides statt versichere.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Die Bundesagentur führt ihre Verwaltungsakten elektronisch in einem Fachverfahren.

Elektronische Aktenführung im Ermessen der Behörde

Diese Entscheidung, die Akten nicht papierhaft zu führen, unterliegt ihrem eigenen Organisationsermessen. Wie die Wortlaute von § 25 Abs. 5 S. 2 SGB X und § 36a Abs. 2 S. 4 Nr. 3 SGB I zeigen, eröffnet der Gesetzgeber insbesondere die Möglichkeit zur Führung von elektronischen Akten (vgl. insb. auch die Sollvorschrift des § 6 S. 1 EGovG für Bundesbehörden).

Akteneinsicht im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs

Die Bundesagentur für Arbeit gewährt Akteneinsicht in elektronische Verwaltungsakten bei Beteiligung eines (Prozess-)bevollmächtigten generell durch Übermittlung über den elektronischen Rechtsverkehr.

Das SG Gießen meint, dies sei nicht zu beanstanden, denn das Repräsentat, das sie hierbei exportiert, besteht aus Einzeldokumenten im Dateiformat „.pdf“ und zugehörigen Dateien qualifizierter elektronischer Signaturen im Dateiformat „.p7s“ sowie einem strukturierten maschinenlesbaren Datensatz, der Datei „xjustiz_nachricht.xml“, mit der die Einzeldokumente vom Empfänger strukturiert, nämlich nach Teilbänden getrennt und inhaltlich sortiert, dargestellt werden können. Exakt in diesem Format habe die Beklagte ihre Verwaltungsakten aus dem diesem Rechtstreit zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren an das Gericht übersandt. Das Gericht habe sie dann inhaltlich unverändert weitergereicht (freilich unter automatisierter Umbenennung lediglich des Dateinamens der Datei xjustiz_nachricht.xml, um dessen automatische Überschreibung und damit Vernichtung im Rahmen der Übersendung zu verhindern). Im Zuge einer hypothetischen erneuten Akteneinsichtsgewährung gegenüber dem Kläger durch die Beklagte selbst erhielte dieser identische elektronische Kopien der bereits dem Gericht und sukzessiv seiner Prozessbevollmächtigten übermittelten Dokumente. Dies wäre ein gänzlich redundanter Vorgang.

Kein Anspruch auf Paginierung

Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht aus dem Verlangen des Klägers nach Paginierung der Akte. Dieses Verlangen sei unbeachtlich. Die Paginierung, also die Seitennummerierung eines Schriftstückes, ist ein Relikt aus der papierhaften Dokumentenbearbeitung, die zwar als Komfortfunktion auch elektronischen Dokumenten technisch hinzugefügt werden kann, die aber zur Gewährleistung von Aktenwahrheit, Aktenklarheit und Aktenvollständigkeit in der elektronischen Dokumentenbearbeitung nicht erforderlich ist, weil es andere, effektivere und zugleich effizientere Maßnahmen zur Gewährleistung des Gebots ordnungsgemäßer Aktenführung gibt.

Rüge der Unvollständigkeit muss substantiiert werden

Die sinngemäße Rüge der Unvollständigkeit führe ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung. Hierfür fehlten Anhaltspunkte diesbezüglich weitere Ermittlungsmaßnahmen durchzuführen. Die Beklagte führe gerichtsbekannt ein erprobtes und in Fachkreisen mehrfach transparent vorgestelltes System verlässlicher elektronischer Aktenführung. Zwar stehe außer Frage, dass die gerichtsbekannt nicht statische, sondern dynamische Vergabe von Ordnungsnummern für die einzelnen elektronischen Dokumente im Zuge jeder einzelnen Übersendung ein Einfallstor für missbräuchliche Unterdrückung einzelner Aktenteile darstelle, weil die Gerichte die Vollständigkeit nicht anhand der Lückenlosigkeit solcher Nummern überprüfen könnten. Bislang sei aber kein Fall bekannt geworden, in dem entweder Aktenteile bei der Beklagten aufgrund von Fehlern ihrer Fachanwendung versehentlich untergegangen sind noch solche, in denen Bedienstete manuell Teile unterdrückt hätten. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts sei die Beklagte an Recht und Gesetz gebunden. Anlass, an ihrer Rechtstreue zu zweifeln und die systematische Vernichtung oder Unterdrückung von Aktenteilen oder solche im vorliegenden Einzelfall durch Bedienstete der Beklagten anzunehmen, hätte das Gericht allenfalls, sofern der Kläger substantiierte Anhaltspunkte hierzu vortragen würde (siehe hierzu auch die bei ervjustiz.de bereits besprochene Entscheidung des OVG Münster, Beschl. v. 17.12.2018 – 1 A 203/17). Dies allerdings sei nicht erfolgt.
Kein Anspruch auf Akteneinsicht in Papier

Einen Anspruch auf Ausdruck habe der Kläger nicht (vgl. zur Konstellation zwischen Behörde und Gericht: Gädeke in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 1. Aufl., § 104 SGG (Stand: 01.11.2020), Rn. 19 – kostenpflichtig). Ein rechtsrelevantes Interesse des Klägers könne hiermit auch nicht verbunden sein. Da die Akten der Beklagten elektronisch geführt würden, könne der mit einem Ausdruck einhergehende Medienbruch allenfalls zu einer Qualitätsminderung, nicht aber zu einem Erkenntnisgewinn führen. Gerade in Fällen, in denen Prozessbeteiligte, so wie es beim Kläger zu sein scheint, der Behörde Misstrauen entgegenbringen, enthielten die Repräsentate elektronischer Verwaltungsakten relevante Informationen zur Überprüfung ihrer Authentizität, z. B. Belege qualifizierter elektronischer Signaturen, die bei einem Ausdruck verloren gingen.

Notwendigkeit eines xJustiz-Viewers für eine sinnvolle Akteneinsicht

Dass eine sinnvolle Akteneinsicht in xJustiz-Akten nur mittels eines gesonderten xJustiz-Viewers möglich ist, thematisiert das SG Gießen nicht. Spannend ist schon, dass die Bundesagentur für Arbeit hier für gerade für das Widerspruchsverfahren keine eigene technische Lösung vorsieht. Widerspruchsführer sind daher darauf angewiesen, sich extern eine Viewer-Lösung zu verschaffen – insbesondere den hier beziehbaren xJustiz-Viewer.

Autor: Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts