LSG Schleswig-Holstein restriktiv zum ERV im Verwaltungsverfahren

Während der elektronische Rechtsverkehr im gerichtlichen Verfahren nicht nur mittlerweile durchaus etabliert, sondern sogar verpflichtend ist, ist der elektronische Rechtsverkehr im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren daran gebunden, dass der Empfänger (in diesem Fall die Behörde), den elektronischen Rechtsverkehr „eröffnet“ hat, § 3a VwVfG bzw. § 36a SGB I. Das LSG Schleswig-Holstein – v. 29.10.2021 – L 3 AS 108/20(LSG_SH_29102021) meint, dass hieran hohe Anforderungen zu stellen ist. Ob das gerade auch für das Widerspruchsverfahren gilt ist aber mehr als fraglich. Entsprechend wirkt die Entscheidung hinsichtlich ihrer Begründung etwas aus der Zeit gefallen; erfreulich ist aber, dass die Revision zugelassen ist. So kann das BSG demnächst für Klarheit sorgen. Die Revision ist dort unter dem Aktenzeichen B 7 AS 10/22 R anhängig.

Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs für das Widerspruchsverfahren

Das LSG Schleswig-Holstein lässt in seiner Entscheidung offen, ob das beklagte Jobcenter den elektronischen Rechtsverkehr eröffnet hatte. Eine EGVP-/beBPO-Postfach hatte es nach den Feststellungen des LSG noch nicht eingerichtet. In Betracht wäre deshalb nur die im „Kontaktblock“ des Briefkopfes genannte E-Mail – Adresse der Behörde gekommen. Dies verneint der Senat bereits wenig überzeugend mit der Begründung, „eine einfache E-Mail“ könne die Schriftform des § 36a Abs. 2 SGB I nicht wahren. Das ist so bereits nicht richtig, selbstredend kommt eine E-Mail – im Gegensatz zum Prozessrecht – auch für einen Widerspruch in Betracht; der per E-Mail übersandte Widerspruch muss dann aber qualifiziert elektronisch signiert sein. Zwar verfügen nur wenige Bürgerinnen und Bürger über qualifizierte elektronische Signaturen, aber dafür viele Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Zudem ist durch Fernsignatur-Anbieter eine qualifizierte elektronische Signatur auch im Übrigen ohne Weiteres erreichbar.

Der Senat diskutiert auch nicht zielführend, dass nach der überwiegenden Literaturmeinung für das Widerspruchsverfahren gem. § 84 Abs. 1 2. Hs. SGG eine Verpflichtung für die Behörde besteht einen elektronischen Zugang zur Verfügung zu stellen (so bspw. Schnitzer, RDi 2021, 158, 160; jurisPK-ERV/Müller § 84 SGG Rn. 5.1 – kostenpflichtig). Richtigerweise erkennt das LSG zwar, dass diese Verpflichtung sicher letztlich sanktionslos ist. Da von einer Behörde aber erwartet werden kann, dass sich diese rechtstreu verhalten will, wird man die Voraussetzungen für eine konkludente Eröffnung der einzig zur Verfügung stehenden elektronischen Erreichbarkeit entsprechend gering anzusetzen haben. Da hier das Jobcenter offenbar keinen EGVP-basierten Zugang zur Verfügung gestellt hat, kommt deshalb nur die im Briefkopf genannte E-Mail-Adresse in Betracht. Das Jobcenter hatte nämlich im „Kontaktblock“ des Briefkopfes eine allgemeine Funktions-E-Mail – Adresse der Behörde aufgeführt – neben einer Telefonnummer und einer Telefaxnummer. Es wäre doch für einen objektiven Betrachter des Schreibens fraglich, welchen Zweck die Angabe einer E-Mail – Adresse im Briefkopf eines Bescheids haben sollte, wenn nicht, um darüber auch gegen den Bescheid vorzugehen; also Widerspruch einzulegen. Wäre dies von der Behörde nicht gewünscht, so hätte sie dies klarstellen müssen. Bspw. durch einen deutlichen „Disclaimer“, dass diese Adresse nicht für Anträge und Rechtsbehelfe genutzt werden darf.

Letztlich wäre es im vorliegenden Fall wohl überzeugender, anzunehmen, dass der elektronische Rechtsverkehr mittels E-Mail für das Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren eröffnet war.

Folgen für die Rechtsbehelfsbelehrung

Es sind deshalb die Folgen für die Rechtsbehelfsbelehrung zu diskutieren.

Gegen diesen Bescheid kann jeder Betroffene oder ein von diesem bevollmächtigter Dritter innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch erheben. Für Minderjährige oder nicht geschäftsfähige Personen handelt deren gesetzlicher Vertreter. Der Widerspruch ist schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle einzulegen.

So lautete in der Entscheidung des LSG Schleswig-Holstein die Widerspruchsrechtsbehelfsbelehrung. Es fehlte also ein Hinweis auf die elektronische Form.

Fraglich ist deshalb (auch) im vorliegenden Fall, ob die Rechtsbelehrung vollständig war. Gem. § 66 Abs. 1 SGG muss sie über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist.

§ 66 Abs. 2 SGG bestimmt: Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, daß ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei.

Ob eine vollständige Rechtsbehelfsbelehrung auch eine Belehrung über die Formvoraussetzungen erfordert, wird in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten uneinheitlich angenommen.

In der Verwaltungsgerichtsbarkeit wird weitgehend mit Blick auf den Wortlaut des § 58 Abs. 1 VwGO, der nur die Frist, aber nicht die Form nennt, vertreten, eine Belehrung über die Form der Rechtsbehelfseinlegung sei insgesamt nicht erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Rechtsbehelfsbelehrung daran zu messen, ob sie aus sich heraus verständlich, vollständig und richtig ist.

Die Sozialgerichtsbarkeit hält dagegen wohl überwiegend eine Belehrung über die einzuhaltende Form für zwingend, weil der Bürger diese Information benötige, um die ersten Schritte zum zulässigen Rechtsbehelf zu finden (sog. Wegweiserfunktion). Entsprechend hatte auch ein anderer Senat des LSG Schleswig-Holstein entschieden.

Auch nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausreichend ist jedenfalls ein unvollständiger Hinweis auf den Elektronischen Rechtsverkehr, bspw. nur der Hinweis auf die Einreichungsmöglichkeit mit qualifizierter elektronischer Signatur, nicht aber auch über einen sicheren Übermittlungsweg (so im Fall des OVG NRW v. 27.11.2020 – 11 A 1531/19).

Mit Spannung ist nun die Revisionsentscheidung des BSG zu erwarten. Hinsichtlich einer Belehrung über die elektronische Form der Rechtsbehelfseinlegung hatte dies das BSG (v. 14.03.2013 – B 13 R 19/12 R; vgl. kritisch Müller, NZS 2015, 896, 898; a.A. LSG Darmstadt v. 13.04.2012 – L 5 R 154/11) in einer Entscheidung aus 2013 allerdings noch anders gesehen: Zwar sei die „elektronische Form“ keine Unterform der Schriftform. Dies komme beispielsweise im Wortlaut des § 158 Satz 1 SGG zum Ausdruck. Es handele sich aber („noch“) nicht um einen „klassischen“ bzw. „allgemein gebräuchlichen“ Weg zu den Gerichten. Die elektronische Einreichung habe trotz ihrer Zulassung noch keine solche praktische Bedeutung erlangt, dass es geboten wäre, die Beteiligten auf diese Form hinzuweisen. Zwar seien die erforderlichen IT-Geräte mit Internetzugang mittlerweile weit verbreitet; die Rechtsbehelfsbelehrung könne sich aber auf Wege beschränke, die auch ohne „informationstechnische Spezialkenntnisse und eine spezifische technische Ausstattung“ nutzbar sind.

Diese Entscheidung des BSG hat sich aber überholt, denn spätestens seit dem Jahr 2018 ist die elektronische Kommunikation mit Behörden und Gerichten im Allgemeinen längst nicht mehr als außergewöhnlich zu bezeichnen. Nunmehr handelt sich bei der elektronischen Form um einen „Regelweg“, mit der Folge, dass ohne einen Hinweis hierauf die Wegweiserfunktion der Rechtsmittelbelehrung nicht erfüllt ist. Denn ein fehlender Hinweis erscheint durchaus geeignet, bei den Beteiligten den Eindruck zu erwecken, dass der Rechtsbehelf eben nicht in elektronischer Form eingelegt werden könne. Dies gilt – aufgrund der wohl bestehenden Verpflichtung der Behörde einen elektronischen Zugang für das Widerspruchsverfahren bereit zu halten – erst Recht für das Widerspruchsverfahren.

Weiterführende Hinweise:

Zu den Hintergründen des elektronischen Rechtsverkehrs mit Behörden: –> hier.

Autor: Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts