Der BGH (v. 19.1.2023 – V ZB 28/22) meint, es sei nicht zu beanstanden, wenn das Gericht erst bei Bearbeitung des Falles und damit nach Ablauf der Fristen die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs und dabei auch die Einhaltung der Form überprüft. Die gerichtliche Fürsorgepflicht gebiete es lediglich, die Partei auf einen leicht erkennbaren Formmangel – wie das vollständige Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift – hinzuweisen und ihr gegebenenfalls Gelegenheit zu geben, den Fehler fristgerecht zu beheben. Im Rahmen der sog. Containersignatur-Rechtsprechung im Jahr 2018 war der BGH hier noch strenger mit den Gerichten und großzügiger mit den Beteiligten gewesen.
Sachverhalt
In einem Berufungsverfahren war die Berufungsschrift elektronisch ohne Verwendung eines sicheren Übermittlungswegs eingereicht worden. Eine qualifizierte elektronische Signatur wäre also erforderlich gewesen. Das eingereichte Dokument selbst war aber nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen; vielmehr ist die der Berufungsschrift als separates PDF-Dokument beigefügte Anlage, die das angefochtene Urteil enthält, vom Prozessbevollmächtigten qualifiziert elektronisch signiert worden. Vermutet wird vom Gericht eine Verwechslung der beigefügten Dateien im Rahmen des Signaturvorgangs.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Der BGH meint zunächst, dass die beiden Dateien – Berufungsschrift und beigefügtes Urteil – keine „gewollte Einheit“ bildeten. Die in unterschiedlichen Dateien, lediglich in der selben EGVP-Nachricht übersandten Dokumente seien getrennt voneinander zu betrachten, weshalb die Signatur des Urteils nicht „gleichzeitig“ eine Signatur des Schriftsatzes darstelle.
Der BGH führt weiter aus, dass hier nicht eine Signatur der Berufungsschrift entbehrlich sei. Die qualifizierte elektronische Signatur ersetze zwar die handschriftliche Unterschrift im elektronischen Rechtsverkehr und es gebe eine gesicherte Rechtsprechung, dass auf eine handschriftliche Unterschrift verzichtet werden könne, wenn aufgrund anderer, eine Beweisaufnahme nicht erfordernder Umstände zweifelsfrei feststeht, dass der Rechtsmittelanwalt die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes übernommen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 1986 – VII ZB 21/85, BGHZ 97, 251, 254; Beschluss vom 15. Juni 2004 – VI ZB 9/04, VersR 2005, 136, 137; Urteil vom 10. Mai 2005 – XI ZR 128/04, NJW 2005, 2086, 2088; Beschluss vom 26. Oktober 2011 – IV ZB 9/11, juris Rn. 6, 11). Dies sei aber nur in Ausnahmefällen anzunehmen, bspw. wenn die nicht unterzeichnete Berufungsbegründung mit einem von dem Rechtsanwalt unterschriebenen Anschreiben fest verbunden ist oder wenn die eingereichten beglaubigten Abschriften der nicht unterzeichneten oder nicht eingereichten Urschrift der Berufungsbegründung einen von dem Prozessbevollmächtigten handschriftlich vollzogenen Beglaubigungsvermerk enthalten. Der vorliegende Fall sei damit nicht vergleichbar. Die signierte Anlage könne keine Gewähr für die Verantwortungsübernahme bzw. Urheberschaft hinsichtlich des Schriftsatzes bieten.
Auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann der BGH nicht als gerechtfertigt ansehen. Der Rechtsanwalt habe nicht schuldlos gehandelt. Die Verwechslung hätte ihm auffallen müssen.
Insbesondere überwiege nicht ein Verschulden des Gerichts, dass der Formmangel nicht innerhalb der noch laufenden Rechtsmittelfrist aufgefallen und angemahnt worden sei. Im Hinblick auf den übrigen Geschäftsanfall ist es nicht zu beanstanden, wenn der Richter erst bei Bearbeitung des Falles und damit nach Ablauf der Fristen die Zulässigkeit der Berufung und dabei auch die Einhaltung der Form überprüft. Eine solche Fürsorgepflicht gelte nur für leicht erkennbaren Formmängel – wie das vollständige Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift. Eine generelle Verpflichtung des Gerichts, die Formalien des als elektronisches Dokument eingereichten Schriftsatzes sofort zu prüfen, bestehe nicht.
§ 130a Abs. 6 ZPO sei nicht anwendbar. Dieser beziehe sich nur auf Mängel der Bearbeitbarkeit, nicht auf Mängel der Authentizität des Dokuments (d.h. nicht auf den Übertragungsweg und die Signatur).
Anmerkung
Abgrenzung Eingangsfiktion – Wiedereinsetzung
Teils bewegt sich die Entscheidung des BGH auf den bereits bekannten Pfaden. Insbesondere wendet der BGH richtigerweise nicht § 130a Abs. 6 ZPO – die Eingangsfiktion – an, weil sich diese nur auf die Bearbeitbarkeit des Dokuments bezieht, sondern prüft – die allerdings verschuldensabhängige – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Prüfpflicht über die Eingangsbestätigung hinaus?
Ebenfalls nicht überraschend ist, dass der BGH wenig Milde hinsichtlich der Sorgfaltspflichtverletzung des Rechtsanwalts zeigt. Der BGH vertritt bereits seit längerem hohe Anforderungen hinsichtlich den Prüfpflichten im Versand; hier hätte deshalb durchaus auffallen können, dass die falsche Datei signiert worden war. Jedenfalls bei Verwendung einer detached Signatur; in diesem Fall wäre nämlich das Versehen leicht in der Eingangsbestätigung gem. § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO am Dateinamen der Signaturdatei erkennbar gewesen. Ob die Entscheidung dagegen auch bei Verwendung der nicht leicht in der Eingangsbestätigung identifizierbaren Inline-Signatur nicht hätte anders ausfallen müssen, ist bereits fraglich – insoweit würde der BGH eine Prüfpflicht über die Eingangsbestätigung hinaus verlange. Dies wäre nicht nur neu, sondern wohl auch zu weitgehend.
Fürsorgepflicht des Gerichts
Neu ist, dass der BGH – in Abkehr zur Containersignatur-Rechtsprechung – die Fürsorgepflicht des Gerichts deutlich zurücknimmt. Die gerichtliche Fürsorgepflicht gebiete nur (noch?), die Partei auf einen leicht erkennbaren Formmangel – wie das vollständige Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift – hinzuweisen und ihr gegebenenfalls Gelegenheit zu geben, den Fehler fristgerecht zu beheben. Geschehe dies nicht, gehe die nachfolgende Fristversäumnis nicht zu Lasten des Rechtsuchenden; das Verschulden des Prozessbevollmächtigten wirke sich dann nicht mehr aus.
Noch bei der Erkennung einer Containersignatur durch die Richterin oder den Richter hatte der BGH dagegen eben diese Fürsorgepflicht angenommen, obwohl es sicher deutlich anspruchsvoller (wenn auch nach entsprechender Fortbildung nicht wirklich schwierig) ist, eine Containersignatur zu erkennen, als auszumachen, an welchem Dokument die Signatur angebracht ist. Beides lässt sich ähnlich leicht/schwer anhand des Prüfvermerks oder des Transfervermerks erkennen.
Insgesamt zeigt die Entscheidung daher, dass die Zeiten, in denen die Rechtsprechung großzügig bei Fehlern im „Neuland“ elektronischer Rechtsverkehr ist, offenkundig vorbei ist. Die Rechtsprechung insbesondere des BGH wird zusehend strenger. Das ist insgesamt zu bedauern, denn gerade Fälle wie der vorliegende, können „im Massengeschäft“ auch der Rechtsanwaltschaft immer wieder geschehen. Im Übrigen verkennt die Rechtsprechung hier die gesetzgeberische Intention, die insbesondere in den großzügigen – sogar verschuldensunabhängigen – Normen § 130d S. 2 ZPO oder § 130a Abs. 6 ZPO erkennbar ist. Auch diese Rettungsanker galten nicht nur in einer Übergangszeit. Diese gesetzgeberische Wertung sollte auch auf die Maßstäbe der Wiedereinsetzung übertragen werden.